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Dass, was allzu selbstverständlich ist und deshalb oft gar nicht bemerkt wird, Anlass sein kann für Fragen, die weitreichende Antworten nach sich ziehen und so den wissenschaftlichen Fortschritt  befördern können – dafür liefert einen neuerlichen Beweis das jüngst erschienene Buch „Poesie und Wissen" von Heinz Schlaffer, der  im Vorwort bekennt, schon lange an den Geschäften der Literaturwissenschaft beteiligt gewesen zu sein, „ehe ich mich darüber zu verwundern begann, dass es Institutionen und Personen gibt, die den Auftrag haben, über so etwas Unernstes wie die Erfindungen von Dichtern, über Fiktionen also, ernsthaft nachzudenken".

Das  Ergebnis  dieser lohnenden  Verwunderung  ist ein Werk, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die besondere kulturelle Funktion und Leistung der philologischen  und literaturwissenschaftlichen Disziplinen  zu untersuchen. Odo Marquards Antwort auf  diese Frage, der  den Geisteswissenschaften pauschal eine die Sinn- und  Orientierungsdefizite der entzauberten Welt kompensierende Funktion bescheinigt, ist nicht sehr überzeugend und unterstreicht die Notwendigkeit dieser Untersuchung, die sich glücklicherweise nicht von der gleichsam tagesphilosophischen Debatte um dieses  Problem bannen lässt, sondern den Dingen  auf den  Grund zu gehen versucht. Ihre Kardinalfrage lautet: Wie kommt es, dass die Poesie, die in der Frühzeit der griechischen Antike das privilegierte  Medium des Wissens war, selbst zum Gegenstand der Wissenschaft, in  Gestalt  von Poetik und Philologie, werden konnte und damit ein Prozess eingeleitet wurde, der die Dichtkunst bis in die heutige Zeit zu dem qualifiziert hat, was  unter  dem Begriff  Literaturästhetik verstanden wird?

Schlaffers  akribisch angelegte Rekonstruktion  dieses Prozesses zeigt, wie philosophisches Denken und wissenschaftliche Erkenntnis sich aus der Kritik an der Poesie und dem von ihr repräsentierten mythologischen Weltbild entwickeln, indem sie ihren Wahrheitsgehalt in Frage zu stellen, ihre Produkte als bloße Fiktionen zu  entlarven beginnen und  somit die Voraussetzung dafür schaffen, dass sie als nunmehr ästhetische Gebilde philologisch behandelt und das heißt in ihrem poetischen  Sinn erhalten und gedeutet werden können. Worin aber besteht dieser in der ästhetischen Form für alle  Zeiten konservierte Sinn der Poesie,  wenn sie nach ihrer philosophisch-wissenschaftlichen Entwertung nicht mehr wie in archaischen, mündlichen Kulturen zur unmittelbaren Lebensorientierung taugt?

Schlaffers Antwort auf diese Frage, die ein ganzes Kapitel seines Buches beansprucht, ist ebenso originell wie vielleicht für viele irritierend; denn für ihn partizipiert  jegliche Literatur – ob in romantischer, realistischer oder avantgardistischer Form – am mythischen Sinn der archaischen – mit dem Unterschied allerdings, der einer ums Ganze ist, dass dieser Sinn  in der modernen Welt zur Fiktion geworden sei und bewusst als  solcher wahrgenommen werde. Es heißt  dies nicht weniger, als dass der Sinn der Poesie im Bewusstsein des modernen Menschen nicht mehr in einer fraglosen  Wahrheit aufgehe, sondern als ein von Wahrheitsansprüchen entbundenes  Angebot ästhetischer Kontemplation gelte, das er, wie jedes andere Angebot der bürgerlich-kapitalistischen Warengesellschaft, annehmen oder ablehnen könne.

Im  Unterschied jedoch zu vielen anderen Angeboten unserer Überflussgesellschaft sei das  ästhetische Produkt, wie sein hartnäckiges  Weiterexistieren auch unter  dem Verdacht, bloße Fiktion, gar Lüge  zu sein, zeigt, offensichtlich nichts  Überflüssiges, sondern etwas  höchst Sinnvolles, das seinen Sinn aus dem  Bedürfnis der Menschen nach Verzauberung gerade in einer durch das exakte Wissen entzauberten Welt beziehe. Der Zauber der Poesie, ihr unwiderstehlicher Reiz bestehe darin,  dass sie die Phantasie der Menschen,  die  über die  bloße  Faktizität hinausdrängt, befriedige,  ohne sie gleichzeitig von dieser Faktizität zu  entfremden und ohne sie auch zum Verzicht auf die materiellen Segnungen der modernen Welt zu bewegen.

Heinz Schlaffer: „Poesie und Wissen”. Frankfurt 1990. Suhrkamp Verlag. 249 Seiten.