„Schluß mit der Moral” – der Titel des „Kursbuchs” mag irritieren. Beklagt unsere Gesellschaft nicht eine schleichende Erosion der Moral? Müsste die nicht gerade eingefordert werden? Das „Kursbuch” konzentriert sich auf die öffentliche und offizielle Moralproduktion, die auf die Krise des moralischen Bewusstseins reagiert – mit überwiegend zweifelhaften Ergebnissen, wie die Beiträge belegen.
So muss die Moral nicht nur herhalten, um eine Sicherheitspartnerschaft zwischen dem Staat und dem guten Bürger gegen den schlechten, weil kriminellen, zu begründen, auch Wirtschaftsvertreter verfassen Traktate über die anständige Gesellschaft und die negativen Begleiterscheinungen des Sozialstaats. Die Wissenschaft hat die Moral zu neuem, aber kraftlosem Leben erweckt. Und das Feld moralisierender Ratgeberkultur, die vor allem ein schlechtes Gewissen erzeugt, ist kaum noch zu überblicken.
Eine Renaissance feiert die Moral in der Politik – was allerdings nur einhelligen Beifall da findet, wo, wie im Fall Pinochet, mit ihrer Hilfe der Versuch gestützt wird, weltweit gültige Strafrechtsnormen für bestimmte Verbrechen durchzusetzen. Kontrovers diskutiert wurde dagegen der kürzlich beendete Kosovokrieg, der ein moralisches Dilemma offenbarte: Töten, um das Töten zu verhindern. Doch auch wenn man nicht jede kriegerische Handlung als unmoralisch verwirft, bleibt die Moral als Richtschnur politischen Handelns riskant – so das Fazit von Cora Stephan, die einen von drei Beiträgen zu diesem Thema geschrieben hat.
„Schluß mit der Moral!” zu fordern, scheint angesichts der überwiegend negativen Bilanz, die das „Kursbuch” aufmacht, folgerichtig – gäbe es da nicht die in einem Aufsatz ausführlich gewürdigte Alltagsmoral im Umgang der Menschen miteinander. Frei von Rigorismus und missionarischem Ernst, sich selbst nicht ganz ernst nehmend und den anderen achtend, so empfiehlt sich die Alltagsmoral als Korrektiv der hohen, aber oftmals nur hohlen Moral.
„Schluß mit der Moral”, Kursbuch 136 (Juni). Rowohlt-Verlag, Berlin. 174 Seiten, 18 Mark.
(Erschienen im „Darmstädter Echo“ am 9. 7. 1999)