Versuch einer Erklärung respektive Klarstellung der Gedanken Nassehis aus dessen Buch „Unbehagen – Theorie der überforderten Gesellschaft“, hier auf das „Was tun?“ überschriebene 12. Kapitel bezogen, in dem es darum geht, wie es trotz der Eigenlogik der Systeme einer modernen/ausdifferenzierten Gesellschaft gelingen könnte, auf aktuelle multiple Krisen angemessen zu reagieren.
Zunächst sollte man sich klarmachen, was die grundlegende Erkenntnis von Nassehis, auf Luhmanns funktionalistischer Theorie der Gesellschaft fußenden Analyse unserer Gesellschaft im Hinblick auf deren Veränderbarkeit ist. Verändern ließen sich moderne Gesellschaften nur im Rahmen bordeigener Möglichkeiten, nicht durch einen Triumph des Willens, da er keinem ansprechbaren Kollektiv eindeutig zuzuordnen sei. Gerechnet werden müsse vielmehr mit dem Eigensinn, der inneren Komplexität und den Widerständen in einer hoch differenzierten Gesellschaft.
So gesehen erscheinen weder klassisch-aufklärerische Ansätze oder Bildungsbemühungen, die auf die Vernunftfähigkeit des Menschen setzen, noch populistische Weltverbesserer wie die Klientel der AfD, die für die Krise unserer Gesellschaft pauschal die Migranten oder die Politik, insbesondere die Grünen, verantwortlich machen, für deren Lösung geeignet. Die Überforderung der Gesellschaft, die sich in Teilen derselben auch in der Tendenz nach autokratisch-nationalistischen Lösungsangeboten äußert, ist nach Nassehi eine Überforderung durch sich selbst, also systembedingt. Da die Gesellschaft aus verschiedenen, nach ihrer eigenen Logik erfolgreich funktionierenden Systemen wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft etc. besteht, gibt es für gesellschaftliche Krisen keine einheitlichen Lösungsvorschläge. Genau daraus leitet sich nach Nassehi die Überforderung ab. „Zur Frage meiner Studentinnen und Studenten (warum es nicht gelingt, die Probleme zu lösen, d. Verf.) lässt sich tatsächlich nur sagen, dass es kein Entrinnen aus dieser Überforderung gibt – aber diese Überforderung ist eben Problem und Lösung zugleich.“ (S. 301)
Nassehis Lösungsansatz folgt der Erkenntnis, „dass die funktionale Differenzierung die Gesellschaft an die Grenzen koordinierter Handlungsfähigkeit bringt“ (S. 310), weshalb er auf eine Risikostrategie setzt, die darauf reagiere, „die Schnittstellen zwischen den Zielkonflikten der Gesellschaft handhabbar und entscheidungsfähig zu machen“ (S. 313). Zur Veranschaulichung dieses Gedankens verweist Nassehi sowohl auf die COVID-Pandemie als auch auf die Klimakrise, die deutlich gemacht hätten, wie entscheidend „Arrangements zwischen den unterschiedlichen Funktionslogiken“ (S. 315) für die Herstellung von Handlungsfähigkeit und damit für die Bearbeitung von Zielkonflikten seien. Dass das tatsächliche Managen der COVID-Krise eher zu einem Unbehagen in der Bevölkerung geführt habe, habe daran gelegen, dass sie wie eine amorphe Gefahr, aber nicht risikoadäquat behandelt worden sei, was die Bedeutung solcher Arrangements für Nassehi unterstreicht. Praktisch regt er an, Orte zu schaffen, „in denen Sprecherpositionen nicht nur unterschiedlicher Interessen- und Betroffenenebenen (Sozialdimension), sondern auch unterschiedlicher Expertise (Sachdimension) zusammenfinden“ (S. 316). Nur so sei es möglich, gesellschaftlich tragfähige Lösungen und Entscheidungen zu ermöglichen.
Das Neue in Nassehis soziologischer Theorie zeigt sich, wenn er seinen Ansatz mit Habermas‘ konsensorientierter Theorie des kommunikativen Handelns vergleicht, die ideale Sprechsituationen für die industriepolitische Moderne vor allem an der Sozialdimension scharf stelle. Dieser habe zwar auch schon erkannt, dass sich in mediatisierten Bereichen wie Staat/Verwaltung und Wirtschaft andere Formen etablierten, die schwerlich mit dem Konzept der idealen Sprechsituation, wie es Habermas entwirft, kompatibel erscheinen, aber in seiner Kommunikationstheorie nicht konstitutiv berücksichtigt. Nassehi, der vor allem auch auf die Sprecherposition der Funktionslogiken setzt, schließt in seiner Theorie diese Leerstelle bei Habermas.
Dabei gilt es aber zu bedenken, dass Nassehis nicht-normative soziologische Theorie keine Verwandtschaft mit dem philosophischen Idealismus hat, wie er noch bei Habermas zur apriorischen Grundlegung seiner Kommunikationstheorie gehört. Dieser zeigt durch seine kontrafaktische Unterstellung, dass alle Diskursteilnehmer in einer idealen Sprechsituation Kommunikationskompetenz besäßen, eine nicht zu bestreitende Nähe zu Kant, der seine Geschichtsteleologie mit dem Konstrukt eines transzendentalen Ich verband, wonach sich das vernunftbegabte empirische Ich im idealen Falle richten würde. Nassehi teilt weder diesen Transzendentalismus Kants bezüglich der Vernunft des Menschen noch Habermas‘ kontrafaktische Unterstellung einer kommunikativen Vernunft. Diese idealistischen Bausteine gehören nicht zum Kernbestand von Nassehis Theorie der Gesellschaft, die gleichwohl auch von unvermeidlichen Unterstellungen ausgeht. Er bezeichnet diese als Latenz, worin er eine notwendige Funktionsbedingung der modernen Gesellschaft insofern sieht, als damit eine Reduktion von Systemkomplexität erfolgt. In einem mündlichen Beitrag auf Youtube gibt Nassehi ein schönes Beispiel für Latenz: Alle Autofahrer unterstellen sich gegenseitig, dass die Vorfahrtsregel rechts vor links eingehalten wird. Auch die Grammatik einer Sprache hat eine Latenzfunktion.
Noch einmal zurück zum Begriff einer idealen Sprechsituation, die sich Nassehi als regulative Idee im Sinne Kants funktionalistisch so vorstellt: Dass es darum ginge, „diejenigen an einen Tisch/in eine Entscheidungsverantwortung/in eine Risikoverantwortung zu bringen, die üblicherweise nicht zusammenkommen“ (S. 318). Und er fährt fort: „Rein logisch gesehen verlangt die Überforderung durch Zielkonflikte, durch Differenzierungsfolgen, durch die Differenzierung von Erfolgskriterien, auch durch daraus resultierende Interessen nach einer solchen Situation: Die Beobachtung einer anderen Logik hat Folgen für die eigenen Präferenzen, für die eigene Beobachtung, für das eigene Handeln.“ (S. 318)
Nach all dem scheint festzustehen: Der Vernunftbegriff Kants, dessen unterstellte Vernunftbegabung des Menschen scheint für Nassehis Theorie der modernen Gesellschaft keine Richtschnur mehr zu sein im Hinblick auf ihre Veränderungen. Bei ihm erscheint die Vernunft funktionalistisch eingedampft: als Verfahren, Zielkonflikte in der komplexen und widerständigen Gesellschaft vernünftig, das heißt pragmatisch auszutragen. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass Nassehi sich der Aufklärungstradition verpflichtet weiß, er durchaus als Aufklärer gelten kann, wenn auch mit dem Attribut systemimmanent. Immerhin nimmt er zum Schluss dieses Kapitels „Was tun?“ eine Anleihe bei Kants kategorischem Imperativ, wenn er, diesen variierend, schreibt: „Ein kategorischer Imperativ müsste dann lauten: Handle so, dass dein Gegenüber anschließen kann, gerade weil du das nicht kontrollieren kannst.“ (ebd.)
Fragen und Kritik zu Nassehis Theorie der überforderten Gesellschaft
Nassehi interpretiert in seinem Buch „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ im Wesentlichen diese Überforderung systemimmanent-funktionalistisch als eine Überforderung durch sich selbst, womit sich eine geistige Elite, die diese strukturellen Zusammenhänge analytisch nachvollziehen kann, zufriedengeben mag. Ob sich das Unbehagen, dem seit Freuds grundlegender Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ auch eine psychische Dimension innewohnt, in weiten Kreisen der Bevölkerung damit ebenso beruhigen lässt, ist jedoch zweifelhaft, da es sich dabei um ein existentielles Gefühl handelt, das auf die zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit unserer Gesellschaft reagiert, in der viele Menschen keine Orientierung mehr finden und deren Sinn sie nicht mehr erkennen können. Eine Partei wie die AfD weiß dieses der Aufklärung geschuldete Sinndefizit, das Georg Lukacs einmal die „transzendentale Obdachlosigkeit“ genannt hat, zu nutzen für ihr gegenaufklärerisches Programm, das auf nationalistisch-konservative „Erzählungen“ und rassistische Vorurteile setzt. Da mag Armin Nassehi diese Erzählungen zu Recht als unterkomplex abqualifizieren, wenn es um die Lösung von Problemen in einer funktionalistisch-strukturierten Gesellschaft geht (siehe dazu Nassehis Briefwechsel mit Götz Kubitschek, dem Spiritus Rector der AfD, in seinem Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“!), wirksam bekämpfen lassen diese sich damit aber nicht.
Für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft stellt der offensichtliche Trend zum Populismus und zur autokratischen Herrschaft in nicht marginalisierter Größe jedoch eine gefährliche Entwicklung dar, die gerade auch von einem Soziologen wie Nassehi, dessen Theorie fokussiert ist auf liberal-demokratisch strukturierte Gesellschaften, nicht angemessen in seiner Problembeschreibung und -analyse berücksichtigt zu werden scheint. Die Erklärung jedenfalls, dass die AfD nur deshalb erfolgreich sei, weil sie sagbare Beschreibungen von einer aus unsagbaren komplexen Lebensverhältnissen bestehenden Moderne liefert (siehe den mit Professor Karsten Fischer verfassten Beitrag in der FAZ vom 9. 1. 2025), ist zwar im Kern richtig, reicht aber sicher nicht, um auch Menschen zu überzeugen, die genau sich von solchen unterkomplexen Erzählungen politisch einfangen lassen.
Für diesbezügliche Aufklärungsoptionen sieht sich Nassehis Theorie der Gesellschaft jedoch nicht zuständig. Erklären lässt sich diese „Zurückhaltung“ zum einen damit, dass Nassehis Theorie der Gesellschaft keine normative in der Tradition linksliberal-aufklärerischer Philosophie ist, zum anderen auch und vor allem deshalb, weil für den Systemtheoretiker luhmanscher Prägung nicht einzelne Menschen oder Menschengruppen als Adressaten für Veränderungsprozesse in der Gesellschaft relevant sind, sondern nur deren Funktionssysteme. Und doch hat sich Luhmann aus dem von ihm entwickelten strengen funktionalistischen Analysekorsett mit seinem Buch „Protest“, das im Jahr 1996 erschien und sich vorwiegend mit der grünen Protestbewegung beschäftigt, insofern befreit, als er darin in sozialen Protestbewegungen etwas erkennt, was diese von den gesellschaftlichen Systemen und deren Logiken unterscheidet. Dabei attestiert er ihnen eine wichtige Funktion dahingehend, dass sie auf Fehlentwicklungen dieser Systeme aus der Perspektive von davon betroffenen Menschen aufmerksam machen und diese, die wegen ihrer Eigenlogik blind dafür sind, von außen zu Veränderungen zwingen. Ist es vor diesem Hintergrund nicht naheliegend, die aktuelle populistische Protestbewegung aus funktionalistischer Perspektive mit der Grünen-Protestbewegung in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts strukturell zu vergleichen, auch wenn beide Bewegungen große inhaltliche Unterschiede aufweisen? Tut man das, dann kann man den aktuellen Protest der Populisten hierzulande, aber auch anderswo als eine Form des außersystemischen Protests verstehen, der letztlich auch zu Veränderungen in den Systemen (vor allem der Politik) führen wird und dies auch schon am Beispiel der aktuellen Migrationsproblematik nachweisbar ist.
Luhmann hat damals Grüne wie Joschka Fischer gelobt, weil sie im Unterschied zu anderen in der Partei verstanden hätten, dass sie nur in den Systemen selbst die angestrebten Veränderungen in der Gesellschaft herbeiführen könnten. Ob man sich das aber angesichts der politisch rechtsradikalen Ausrichtung der AfD wünschen sollte, ist, gelinde gesagt, fragwürdig. Denn deren eigentliches Ziel scheint ja auf eine das liberal-demokratische System sprengende Politik hinauszulaufen.
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Kurt Frech
Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. München 2021. Beck-Verlag
Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Hamburg. 2015. Murmann Publishers GmbH