Ohne die Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem diejenige Kants, aber auch Hegels und Fichtes, gäbe es die Begriffe „Aufklärung“, „Vernunft“, „Subjekt“, „Individualismus“, „freier Wille“, „Besonderes“ und „Allgemeines“ nicht, die den Beginn der Moderne begründen und bis in unsere heutige moderne Gesellschaft und Politik wirkmächtig geblieben sind. Diese Philosophie steht für die Entmachtung der Religion, generell der Metaphysik/Transzendenz, und für die Selbstermächtigung des Subjekts. Bei Kant ist diese Selbstermächtigung besonders deshalb so stark ausgefallen, weil der Mensch als sich selbst bestimmendes Subjekt die durch die Aufklärung entstandene metaphysische Leere ausgleichen musste. Besonders deutlich wird dies in seiner Erkenntnistheorie insofern, als das transzendentale Subjekt quasi der Natur vorschreibt, wie sie zu erkennen sei. Auch auf dem Gebiet der Moralphilosophie ermächtigt das transzendentale Subjekt den Menschen in Form des kategorischen Imperativs zu allgemein gültigen Handlungsmaximen. Kant begründet auf der Grundlage seines Konzepts des transzendentalen Subjekts vor allem den freien Willen des Menschen.
Doch Kants Philosophie operiert mit Einseitigkeiten und produziert Leerstellen. Nicht nur ist seine erkenntnistheoretische Begründung einseitig ausgerichtet am Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und lässt gesellschaftliche und ideelle Wirklichkeiten als mögliche Erkenntnisgegenstände außer Betracht. Weiterhin ist sein transzendentales „Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können“ eine hochgradig abstrakte und zudem einseitige Festlegung des Erkenntnis- und des moralischen Subjekts. Das ist bei ihm systembedingt. Er unterscheidet in seiner Philosophie strikt zwischen einem transzendentalen und einem empirischen Ich, einem theoretischen und einem lebensweltlichen Ich. Darin eben besteht sein Idealismus, der vom empirischen Ich erwartet, dass es sich gattungsgeschichtlich dem transzendentalen Ich annähert. So jedenfalls die Hoffnung seiner teleologischen Geschichtsphilosophie. Gleichwohl hat Kant in seiner Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ durchaus eingeräumt, dass die Entwicklung der menschlichen Naturanlagen, des Menschen Fähigkeit zur Vernunft kein geradliniges Unterfangen ist, wie sein berühmter Aphorismus zeigt: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (6. Satz).
Hartmut und Gernot Böhme haben Kants Philosophie in einer umfangreichen Studie mit dem Titel „Das Andere der Vernunft“ einer kritischen Betrachtung unterzogen und kommen zu dem Schluss, dass die Philosophie der Aufklärung in der Person Kants ihr Selbstbild durch systematische Ausgrenzung, Abwehr, Verdrängung entwickelt habe, wobei mit dem Anderen der Vernunft die Natur, der menschliche Leib, die Fantasie, das Begehren, die Gefühle und das Unbewusste gemeint seien. Das haben auch schon im frühen 19. Jahrhundert als Erste Vertreter der Romantik erkannt und kritisiert. Ihre Kritik zentraler Aufklärungsprinzipien (siehe vor allem das Novalis-Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ aus dem Jahr 1800) hat jedoch die weitere Entwicklung der modernen Gesellschaft zu einem „stahlharten Gehäuse“ (Max Weber) nicht aufzuhalten vermocht.
Wie aus einer freiheitlichen Philosophie, die auf die Idee des starken Ichs, des Subjekts und des autonomen Individuums setzt, eine Gesellschaft entstehen konnte, die Strukturen ausgebildet hat und weiterhin ausbildet, in denen das Ich in seiner Selbstbehauptung zunehmend bedroht oder in Frage gestellt ist und sich einem gesellschaftlichem Allgemeinen machtlos gegenüber sieht, das könnte man als Ironie der Geschichte apostrophieren. Wie soll da eine Verbindung zwischen Besonderem und Allgemeinem noch herstellbar sein? Armin Nassehis Buch „Unbehagen – Theorie der überforderten Gesellschaft“ versucht eine Lösung dieses Problems aus dem Blickwinkel einer funktionalistischen Gesellschaftstheorie à la Luhmann. Darin zitiert er des Öfteren Vertreter des deutschen philosophischen Idealismus, um darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig die Idee der Selbstermächtigung des Subjekts für die Entwicklung der modernen Gesellschaft gewesen sei, zugleich aber deren Komplexität in unserer Zeit Emanzipationskonzepte der Aufklärung als nicht mehr realistisch und daher obsolet erscheinen lasse. Wenn in den funktionalistischen Systemen als den Handlungszentren unserer modernen Gesellschaft Rationalität und instrumentelle Vernunft (Adorno/Horkheimer) das Kommando übernommen haben, könnte schwerlich noch der Appell an unsere Vernunft/Vernunftfähigkeit den Fortschritt befördern. Dieser erscheint aus funktionalistischer Sicht nurmehr als tendenziell unendliche Ausdifferenzierung der auf Spezialisierung und Verbesserung ausgerichteten gesellschaftlichen Systeme. Das genau ist aber das Problem, auf das immer mehr Menschen mit Unbehagen reagieren.
Nassehi interpretiert dieses Unbehagen in der modernen Gesellschaft als Ausdruck einer Überforderung der Gesellschaft durch sich selbst insofern, als die verschiedenen Funktionssysteme angesichts multipler Krisen wegen ihrer unterschiedlichen Logiken keine einheitliche Lösungsperspektive zulassen, was er am Beispiel der Klima- und der Covidkrise erläutert. Vor diesem diagnostischen Hintergrund skizziert Nassehi als eine mögliche Lösung, dass Sprecher der verschiedenen Funktionssysteme in einem nicht konsensuellen (wie in Habermas‘ Theorie der idealen Sprechsituation) Diskurs sich auf pragmatische Lösungen auftretender gesellschaftlicher Krisen verständigen. Ein Sprecher der idealistischen Philosophie der Vernunft hingegen scheint bei Nassehi obsolet geworden zu sein, da es für ihn kein von den Funktionssystemen nicht korrumpiertes Subjekt hinter diesen gibt. Eines ist hier klarzustellen: Nassehi kritisiert nicht die Ideen der Aufklärung, er sieht aber im Subjekt, an das sie einstmals adressiert wurden, heute nicht mehr die gesellschaftsverändernde Instanz, die er nur noch über die Ebene der Funktionssysteme gesichert sieht.
Ich halte Armin Nassehis Theorie der modernen Gesellschaft grundsätzlich für richtig, aber ihre funktionalistische Entwicklungslogik lässt mich ratlos zurück angesichts der sich mir aufdrängenden Frage, wie sich unsere immer noch demokratisch und freiheitlich strukturierte Gesellschaft gegen die Bedrohung durch gegenaufklärerische Konzepte im Innern wie weltweit gestärkt werden kann. Zu denken geben müsste, dass immerhin politische Vertreter der Gegenaufklärung gerade von dem Unbehagen großer Teile der Bevölkerung profitieren, die sich allzu gerne einfangen lassen von nationalistisch-konservativen „Erzählungen“ und sich nicht mit Nassehis Antworten darauf (siehe oben!) zufriedengeben. Für mich scheint es deshalb zwingend zu sein, dass die Frage nach dem Unbehagen der Menschen in der modernen Gesellschaft, die Nassehi in seinem Buch zeitdiagnostisch zu Recht aufgreift, nicht nur, wie er es tut, funktionalistisch begriffen werden kann, sondern auch weiter zu fassen ist, angesichts der immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Gesellschaft etwa unter Einbeziehung der Sinnfrage und der Frage, nach welchen Werten wir Menschen zukünftig leben wollen. Hier lässt die Philosophie der Aufklärung nach der Entmachtung jeglicher Metaphysik und der Selbstermächtigung des Subjekts ein Sinndefizit zurück, das gegenaufklärerische Kräfte durch nationalistisch-konservative „Erzählungen“ und rassistische Vorurteile für sich zu nutzen wissen. Da mag Armin Nassehi diese Erzählungen zu Recht als unterkomplex abqualifizieren (siehe seinen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, dem Spiritus Rector der AfD, in seinem Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“!), wenn es um die Lösung von Problemen in einer funktionalistisch-strukturierten Gesellschaft geht, wirksam bekämpfen lassen diese sich damit sicher nicht.
Können wir angesichts dieser Problemlage uns damit zufrieden geben, dass der klassischen Aufklärung Kants („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“) keine Stimme mehr zukommt, wohl wissend, dass diese gegen durch das Internet und dessen Social-Media-Kanäle übermächtig gewordenen Unwahrheiten und Mythologisierungen es schwer genug hat, sich zu behaupten? Auszuschließen ist gleichwohl nicht, dass die Stimme der Vernunft mit dem Gebot der Mündigkeit an den einzelnen Menschen die populistischen Massen, die in großen Teilen ein geschlossen nationalistisches und rassistisches Weltbild aufweisen, nicht mehr erreichen. Aber welche Alternativen gibt es?
Kurt Frech