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Kennen Sie das? Sie lesen, vielleicht anlässlich eines Lyrikwettbewerbs, über den in der Zeitung berichtet wird, ein darin abgedrucktes modernes Gedicht des Siegers – und verstehen nichts. Sie fragen sich dann wahrscheinlich, ob es an Ihrer mangelnden literarischen Kompetenz liegt, dass Sie mit diesem Gedicht nichts anfangen können. Denn wenn sein Verfasser als preiswürdig empfunden wurde, muss es ja bedeutungsvoll sein.

Für alle, die schon Ähnliches erlebt haben, empfehle ich als Lektüre das neue Buch des emeritierten Germanistikprofessors Heinz Schlaffer, dem Ihre Probleme mit der modernen Lyrik nicht egal sind. Denn sein jüngstes Buch über Lyrik beginnt mit dem lapidaren Satz „Gedichte sind leicht zu erkennen, aber schwer zu verstehen“. Wenn Sie Schlaffers Buch gelesen haben, werden sich Ihre Probleme mit modernen Gedichten zwar nicht in Luft aufgelöst haben, aber Sie werden dann wenigstens verstehen, warum diese so schwer zu verstehen sind.

Aber nicht nur diesbezüglich sorgt Schlaffers Buch für Aufklärung. Es liefert auch Antworten auf Grundfragen der Lyrik: Wie ist sie entstanden, was ist das Besondere dieser auffälligen literarischen Form, und warum gibt es sie nach zwei Jahrtausenden immer noch? Mit den Antworten werden aber nicht alle einverstanden sein. Denn Schlaffer provoziert, nach seinem umstrittenen Buch „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“, erneut, indem er vorherrschenden Erklärungsansätzen zur Lyrik widerspricht. Beschreiben und verstehen diese die Lyrik entweder psychologisch aus einem Erlebnis oder allein aus ihrer ungewöhnlichen Form, rückt Schlaffer „dem zarten Wesen der Lyrik mit einem kruden Begriffspaar zu Leibe: Zweck und Mittel“. Wem da große Bedenken kommen, dem sei schon hier gesagt, dass Schlaffers Ansatz, Gedichte als Sprechhandlungen zu begreifen, beim Rezensenten zu einem neuen, tieferen Verständnis der Lyrik geführt hat. Darüber hinaus überzeugt Schlaffers Buch auch dadurch, dass es alle Arten von Lyrik, von den archaischen Ursprüngen bis in die jüngste Moderne, umfasst.

Schon die ältesten überlieferten Gedichte aus Ägypten, Indien, hebräischen Psalmen. frühgriechischen Hymnen und Oden sowie althochdeutschen Zaubersprüche sieht Schlaffer jeweils von zweckgerichtetem Handeln bestimmt: Sie sollten „die Götter gnädig stimmen, Krankheiten heilen, Missernten abwenden, den Feinden schaden“. Dem möglichen Einwand, dass der Glaube an eine solche Wirkung von Lyrik schon lange nicht mehr gegeben sei und moderne Lyrik sich geradezu als autonome, zweckfreie Kunst verstehe, hält er entgegen, dass die ältesten Zwecke zwar verschwunden seien, „nicht aber die Mittel, die einst dazu dienten, jene Zwecke zu befördern“. Und er ergänzt, dass „ohne das Verständnis ihres archaischen Zwecks [. . .] sich die bis heute eingesetzten Mittel nicht verstehen“ ließen.

Dieser Zweck-Mittel-Beziehung von Gedichten gilt Schlaffers Aufmerksamkeit. Er fragt sich, inwiefern all das, was Gedichte strukturell und sprachlich auszeichnet, also die Anordnung des Textes in Strophen und Versen, Rhythmus und Reim, Präsens, feierliche und bilderreiche Sprache, lyrisches Ich und unbestimmtes Du, mit ihrem ursprünglichen Auftrag verknüpft ist, mit Göttern, mythischen Mächten oder mächtigen Geistern zu kommunizieren, und was sich an den Gedichten ändert, nachdem ihr ursprünglicher Zweck im Zuge der Aufklärung nicht mehr ernst genommen werden konnte? In materialreichen Einzelstudien beschreibt und analysiert Schlaffer die mythische Funktion archaischer Gedichte, wozu eine kollektive Aufführungspraxis im Rahmen von Festen mit Tanz und Gesang ebenso gehörten wie Beschwörungsformeln und monotone Rhythmen. Da man die Sprache der Poesie als Sprache der Götter verstand, kennzeichnet diese von Anbeginn ein hoher, feierlicher Ton und rätselhafte Metaphern. Um ihrem mythischen Auftrag gerecht zu werden, musste die Sprache der Lyrik sich möglichst weit von der des Alltags abheben. Das tut sie noch heute, obwohl es schon lange nicht mehr ihre Aufgabe ist, damit Götter oder Geister erreichen zu müssen.

Was aber ist dann der Zweck der nacharchaischen Lyrik, und warum wird moderne Lyrik immer hermetischer und damit unverständlicher? Schlaffers Antworten seien hier nicht verraten, um der Lektüre von dessen Lyrikbuch nicht die Spannung zu nehmen, die sie ohne Zweifel besitzt. Das mag bei einem wissenschaftlichen Text über Gedichte ein überraschendes Fazit sein – oder auch nicht, wenn man von diesem Autor schon anderes gelesen hat. Denn Schlaffer versteht es auch in diesem Werk, ein über die akademische Fachwelt hinaus reichendes Publikum anzusprechen, ohne das wissenschaftliche Niveau zu unterbieten – und das gelingt ihm ohne das übliche wissenschaftliche Beiwerk, aber dafür mit einer ihresgleichen suchenden Formulierkunst. Zu Recht erhält Heinz Schlaffer den diesjährigen Johann-Heinrich­Merck-Preis für literarische Kritik und Essay, der im Oktober bei der Herbsttagung der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt übergeben wird.

Heinz Schlaffer. Geistersprache – Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012. Carl Hanser Verlag. 204 Seiten. 18,90 €.

(Erschienen im „Darmstädter Echo“ am 27. 8. 2012)