Obwohl die Anzahl der Festivals, Events und traditionellen Veranstaltungen hierzulande in den letzten Jahren so zugenommen hat, dass eine Steigerung kaum mehr vorstellbar scheint, ist die Langeweile noch immer nicht besiegt.
Aber vielleicht ist es ja das Geheimnis der Langeweile, dass sie sich durch Unterhaltung dieser Art überhaupt nicht besiegen lässt, dass die Langeweile vielleicht sogar um so mehr von den Menschen Besitz ergreift, je mehr man sie durch Unterhaltung zu vertreiben sucht. In Lars Svendsens Buch „Kleine Philosophie der Langeweile“, das ihr theorie- und literaturgeschichtlich, phänomenologisch und unter moralischem Aspekt zu Leibe rückt, steht dieser Gedanke im Zentrum.
Dies kommt nicht von ungefähr, denn für den Autor steht fest, dass die Langeweile, wenigstens die existentielle im Unterschied zur situativen, eine Erscheinung der Moderne ist – also in jener Zeit alle Bevölkerungsschichten erfasst, in der die feudale Gesellschaft durch die bürgerliche abgelöst wird und die Romantik Einfluss auf das Denken gewinnt.
Mit dem Verlust kollektiver Überzeugungen, so Svendsen, entsteht in der modernen Gesellschaft ein Sinndefizit, das den Boden für Langeweile, das Bewusstsein, dass alles sinnlos sei, bereitet. Zugleich ebnen die Romantiker mit ihrem Konzept der Selbstreflexion den Weg zu subjektivistischer Weltaneignung. Doch gegen die Macht des Faktischen einer aus den Fugen geratenen Welt können auch die Romantiker mit ihren individualistischen Lebensentwürfen auf Dauer kaum etwas ausrichten. Sie entgehen letztlich so wenig der Langeweile wie diejenigen, die gegen die Leere der Zeit auf die Fülle der Unterhaltungsangebote, auf die Produkte der Zerstreuungsindustrie setzen. Da diese Produkte den Sinnhunger der Menschen nicht befriedigen können, ihn vielmehr immer aufs Neue anstacheln, ist die Industrie gegen die Langeweile zu der deprimierenden Größe unserer Tage gewachsen.
So gesehen, scheint die Langeweile heute eine weitverbreitete psychische Belastung für viele Menschen zu sein. Und diesbezüglich lässt Lars Svendsen eine Reihe großer Geister wie Kant, Schopenhauer und Nietzsche zu Wort kommen sowie literarische Zeugnisse von Beckett bis Warhol sprechen.
Nur einer will in diesen Chor pessimistischer Stimmen zur Langeweile nicht einstimmen: Heidegger, der eigenwillige Analytiker und Kritiker der Moderne. Er plädiert überraschenderweise dafür, dass die Langeweile geweckt werde, da sie den Menschen einen Zugang zur Zeit und zum Sinn des Daseins finden lasse. Denn beim normalen Zeitvertreib, der die Langeweile erst gar nicht aufkommen lassen soll, schliefen die Menschen. Langeweile bewusst zu erfahren und zu ertragen, um von der Oberfläche der Dinge zu ihrem Wesen vorzudringen – auf diese Weise glaubte Heidegger die Menschen vor der Sinnleere ihrer modernen Existenz bewahren zu können.
Solche auf existenzialontologischen Prämissen aufbauende Hoffnung erscheint dem Autor nicht mehr zeitgemäß. Gleichwohl knüpft er an Heidegger an, wenn er empfiehlt, nicht vor der Langeweile in den Zeitvertreib und die oberflächliche Unterhaltung zu fliehen, sondern die Langeweile als Chance zur Selbsterkenntnis zu begreifen. Er geht sogar so weit, dass er, als eine Art Moral der Langeweile, fordert: „Wir müssen die Langeweile festhalten, weil in ihr das Versprechen eines besseren Lebens widerhallt.“ Wer mehr erwartet hat, gar eine Lösung des Problems der Langeweile, den enttäuscht Svendsen mit dem Fazit: „Die Langeweile muss als unvermeidliche Tatsache angenommen werden, als die Schwerkraft des eigenen Lebens. Das ist keine großartige Lösung, denn das Problem der Langeweile hat keine Lösung.“
Spricht daraus die neue Bescheidenheit der Philosophie, die heute kleinere Brötchen als ehedem zu backen gezwungen ist? Es muss jedenfalls kein Nachteil sein, wenn die philosophische Reflexion sich auch allgemein interessierender Themen bemächtigt, wie der mit flotter Feder geschriebene Essay von Svendsen beweist, der übrigens selbst zur Verwandlung von Langeweile in gesteigerte Aufmerksamkeit beizutragen vermag. Denn die Lektüre ist alles andere als langweilig.
Lars Svendsen: „Kleine Philosophie der Langeweile”. Insel-Verlag. 259 Seiten. 16,90 Euro
(Erschienen im „Darmstädter Echo“ am 5. 8. 2002)