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„Ich weigere mich zu glauben, dass ein starkes Engagement sich durch Dürftigkeit des Denkens ausweisen muss.“ Wer sich so kluge Gedanken über die Gesellschaft machen kann wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann, dem mag man nachsehen, wenn er etwas genervt auf diejenigen reagiert, die eben noch nicht die Abstraktionshöhe seines Denkens erreicht haben.

Polemische Zuspitzungen dieser Art lassen die Lektüre von dessen Buch „„Protest“ außerordentlich vergnüglich geraten. Und den der Reflexionsschwäche geziehenen neuen sozialen Bewegungen gibt sie die Chance, klüger zu werden. „„Protest“ bündelt Luhmanns zehnjährige Beschäftigung mit den Protestbewegungen, die sich in Zeitschriftenaufsätzen, Zeitungsartikeln und Interviews aus den Jahren von 1985 bis 1995 niedergeschlagen hat.

Zweifel, ob Systemtheorie und soziale Bewegungen, die den Systemen opponieren, überhaupt zueinander passen, werden beim Lesen des Buches, zu dem der Herausgeber Kai Uwe Hellmann eine fundierte und verständliche Einleitung geschrieben hat, schnell zerstreut. Und auch das weit verbreitete Vorurteil, das Luhmann in die konservative Schublade steckt, gilt es zu relativieren. „„Überhaupt die Frage der Affirmation des Bestehenden: Einerseits leben wir in dieser Gesellschaft, insofern hat es keinen Sinn, sich mit anderen Gesellschaften zu befassen. Andererseits ändert sich diese Gesellschaft so rapide, in so vielen Hinsichten, dass eine Identifikation mit ihr eine Identifikation mit Änderungen ist.“ Und weil die neuen sozialen Bewegungen, insbesondere die Ökologiebewegung, den folgenreichsten Bewusstseins- und Wertewandel in unserer Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg herbeigeführt haben, interessiert sich Luhmann für sie.

Interesse heißt bei ihm aber nicht, dass er mit dem Protest sympathisiert. Ganz im Gegenteil hat er die Protestbewegungen in ihren Anfängen eher als beunruhigend wahrgenommen. Diese skeptische Einschätzung ist im Laufe der Jahre, in denen sich Luhmann mit ihnen befasst hat, einem positiveren Urteil gewichen, das ihre Existenz nunmehr als „„historisches Verdienst" würdigt. Worin besteht dieses Verdienst? Kurz gesagt, darin, dass sie zur Stabilisierung der Gesellschaft beitrügen, gegen die sie protestierten. Das klingt einigermaßen paradox, und um Paradoxien geht es Luhmann in der Tat. Ihm ist nämlich aufgefallen, dass die Gesellschaft mache, was sie nicht wolle, oder besser: was sie nicht wollen kann: ihre natürlichen Grundlagen zu zerstören. Doch das sei ihr nicht bewusst, weil die moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft in Funktionssysteme – die da heißen Politik, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Erziehungswesen und Recht – zerfallen sei, die nur ihrer jeweils eigenen, systemerhaltenden Rationalität gehorchten. Dass sie damit die Fähigkeit verloren habe, sich selbst als Ganzes zu beschreiben oder gar selbstkritisch zu beurteilen, habe erst die Protestbewegung entstehen lassen und großgemacht.  

Luhmann zufolge beschränkt sich ihre Tätigkeit aber nicht darauf, gegen Fehlentwicklungen der Systeme öffentlich zu protestieren. Und der Protest ist erfolgreich. Dass es mittlerweile umweltorientierte Industriezweige, eine Frauenquote in den politischen Parteien oder unorthodoxe Drogentherapien in manchen Städten gebe, sei auf das Wirken alternativer sozialer Bewegungen zurückzuführen, nicht das Ergebnis systemischer Selbstkorrekturen.

Luhmann hält die Protestbewegungen zwar für notwendig, ihre Begründungen und ihr Denken jedoch für dürftig, naiv und selbstgerecht. Aber Luhmann weiß auch, dass Naivität und Begründungsminimalismus, selbst wenn sie ein theoretisches Schwergewicht wie ihn verdrießen, zugleich die Stärke der Alternativen sind. Denn wenn sie immer zuerst überlegten, wie die Systeme funktionieren, nähmen sie sich selbst den Mut zu jeglichem Protest und möglichen Aktionen. Vor allem aber gelte: Betroffenheit und Angst als Quelle des Protests könnten wissenschaftlich nicht widerlegt werden – aber gerade deshalb politisch um so erfolgreicher wirken.  

Dennoch: Lieber sähe es Luhmann, wenn die Alternativen, anstatt nur moralisch, als Betroffene zu argumentieren, sich mit den Strukturen der Systeme beschäftigten, selbst in den Zentren gesellschaftlicher Entscheidung agierten. So schätzt er Grüne wie Joschka Fischer, weil sie erkannt hätten, dass Veränderungen der Gesellschaft, die von ihrer Peripherie, also den sozialen Bewegungen, angestoßen werden, vom Zentrum, den Funktionssystemen, ausgeführt werden müssten. Dagegen finden fundamentalistisch gestimmte Alternative, die für die Abschaffung der funktionalen Differenzierung selbst eintreten, in seinen Augen keine Gnade. „„Für funktionale Differenzierung gibt es aber keine Alternative – es sei denn, man wollte (. . .) auf eine politbürokratische Hierarchisierung der Gesellschaft zurück. Die Alternativen sind also ohne Alternative.“ 

Sind sie deshalb auch ohne Zukunft? In einem Interview von 1994 verneint Luhmann diese Frage unter Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen der Rationalität der Funktionssysteme und ihren fatalen Konsequenzen. Zwar könnten die Systeme durch Änderung ihrer Politik Protest absorbieren. Aber das ginge nicht ohne Risiko, das wiederum Betroffenheit und damit neuerlichen Protest erzeuge – eine Folge der Komplexität moderner Gesellschaften. So vermag etwa eine Verschärfung von Umweltauflagen für die Industrie den grünen Protest zu beruhigen, aber nur um den Preis des sozialen, der anhebt, wenn Firmen deshalb ihre Produktion unter Abbau von Arbeitsplätzen ins Ausland verlagern, wo der Umweltgedanke noch nicht so hoch im Kurs steht.

Protestbewegungen würden also die Entwicklung der modernen Gesellschaft begleiten, weil sie funktional, nach Luhmanns jüngsten Äußerungen sogar „ein „eigenständiger Typ von sozialen Systemen“ seien. Aber so ganz froh scheint er darüber nicht zu sein. Durch seine gesamten Beiträge schimmert eine Ambivalenz in der Bewertung der  Protestbewegungen. Einerseits bescheinigt er ihnen, der einzige bisher wirksame Versuch zu sein, „„die Gesellschaft nicht mehr bloß vom Kapitalismus her zu sehen, sondern in Bezug auf die Tatsache, dass manche für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist". Damit schärften sie den Sinn für die grundsätzliche Problematik der modernen Gesellschaft – für Luhmann deren eigentliche Leistung, die ihnen selbst aber noch nicht recht bewusst zu sein scheine. Andererseits gesteht er, mit Fehlern nicht Frieden schließen zu können. Fast hat man den Eindruck, dass Luhmann den Systemen ihre Dysfunktionalität verübelte, die die Protestbewegungen erst habe entstehen lassen. Denn als soziales System, das nicht primär Systemimperativen folgt, sondern sein Handeln unter dem Gesichtspunkt von Angst und Betroffenheit organisiert, wollen sich die Protestbewegungen nicht so recht der Systemlogik fügen – nicht ideal für einen Theoretiker der Gesellschaft, der davon überzeugt ist: „„Die Gesellschaft besteht, mit anderen Worten, nicht aus Menschen“, sondern sei, wie zu ergänzen ist, „„ein System in Evolution“.  

Wie die Systeme Luhmann als Theoretiker  faszinieren, so fasziniert die Systemtheorie viele derjenigen, die sich mit ihr beschäftigen. Mit der Geschlossenheit und logischen Stringenz ihres Erklärungsmodells der modernen Gesellschaft weckt sie Erinnerungen an vergangene große Theorien und philosophische Systeme, die glaubten, die Welt noch unter einer Idee oder Begriff fassen zu können. Doch anders als diese erhebt ihre postmoderne Variante weder einen Alleinvertretungsanspruch auf wissenschaftliche Wahrheit, noch trifft sie normative Aussagen über die Gesellschaft. Sie erhebt nur einen „„Anspruch auf universelle Anwendbarkeit“. Diesem Anspruch ist Luhmann in Bezug auf die sozialen Bewegungen mehr als gerecht geworden.  Selten ist so anregend, so scharfsichtig und pointiert über gesellschaftlichen Protest geschrieben und gesprochen worden wie in dessen Buch. Wer es gelesen hat, hat nicht nur den Eindruck, klüger geworden zu sein.  

Niklas Luhmann: „Protest”. Frankfurt 1996. Suhrkamp Verlag. 216 Seiten, 19,80 DM