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Walter Benjamin hat Paris die „Hauptstadt des 20. Jahrhunderts” genannt und damit ihre große Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Moderne pointiert gewürdigt. Für das gerade begonnene 21. Jahrhundert kann diese Zuspitzung so nicht mehr gelten –– andere europäische Metropolen wie London, Brüssel, Madrid oder Frankfurt konkurrieren heute mit Paris.

Doch noch immer ist die französische Kapitale Zentrum bedeutsamer kultureller Entwicklungen –– und dies nicht nur auf dem Gebiet der Moden. Aber vor allem ist Paris nach wie vor ein Ort sehnsüchtiger Empfindungen für Millionen von Menschen, die glauben, hier die Freiheit, den Luxus, die Ausschweifung und die Liebe zu finden.

Für solche Menschen, die dem Mythos Paris erliegen, hat Karl Heinz Götze sein Buch „„Immer Paris" nicht unbedingt geschrieben. Wohl aber für jene, die bereit sind, dem Autor auf seinen Erkundungen der zentralen Orte, der berühmten Quartiere, aber auch der problematischen Wohngebiete der französischen Hauptstadt mit wachem und historisch geschärftem Blick zu folgen. Was sie dabei erfahren können, hat nur peripher mit touristischer Erkundung zu tun. Götze geht es in erster Linie darum, durch genaue Beobachtung der einem steten Wandel unterworfenen Stadt eine Vorstellung davon zu entwickeln, was an dieser französischen Metropole nach wie vor einzigartig ist. Götze zufolge sind dies schon lange nicht mehr das Warenangebot, das sich europäisch nivelliert hat, die künstlerische oder intellektuelle Avantgarde oder auch die „„Teppichmuster der Historie", die man auf Schritt und Tritt in Paris wiedererkennt. Für ihn zeichnet diese Stadt die Selbstverständlichkeit aus, „„mit der dort das Neue ins Alte gearbeitet wird".

Im Kleinen bemerkt dies der Autor etwa am Tor des Hauses, in dem dieses Buch geschrieben wurde, in dessen Lackschichten die Spuren des Vergangenen nicht als Beschädigungen, sondern als Spuren des Vergangenen sichtbar blieben. Ähnliche historische Transparenz macht er an den Champs-Elysées aus, dem ehemaligen Prachtboulevard öffentlicher Repräsentation, der heute fest in der Hand von internationalen Modeboutiquen und Fast-Food-Stationen ist. Doch trotz des Verlustes ihrer Exklusivität, die einst den Typus des modernen Flaneurs gerade hier entstehen ließ, ist es für Götze auch heute nicht möglich, die Champs-Elysées nur als eine besonders breite Einkaufsstraße wahrzunehmen.

Was „„Immer Paris" auszeichnet, ist eine in der Literatur über Städte nur selten anzutreffende Mischung aus Alltagsbeobachtung im Stile des Benjaminschen Flaneurs, der offen gegenüber dem Zufälligen ist, und einer essayistischen Sprache, die diese Beobachtungen zu Erkenntnissen wie dieser, hier bezogen auf „„La Goutte d'Or", ein Problemwohnviertel im Norden von Paris, bündelt: „„Im Elend kann man nicht flanieren. Es ist das falsche Tempo."

Selbstverständlich hat ein Autor wie Götze, der in Frankreich als Professor tätig ist, dem ehemaligen europäischen Intellektuellenviertel schlechthin, Saint-Germain-des-Prés, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Als Besichtigung eines Mythos untertitelt, der vor allem um Sartre und Simon de Beauvoir entstand, wahrt der Autor in diesem Kapitel aber auch hier die nötige, nur durch ein wenig Melancholie gemilderte Distanz. Aber auch über den Eiffelturm, das technische Monument des 19. Jahrhunderts und Wahrzeichen der Stadt, weiß Karl Heinz Götze noch etwas zu sagen, was von üblichen Beschreibungstexten abweicht. 

Götze hat mit seinem Buch über Paris angesichts einer unüberschaubar großen Menge an Parisiana zweifellos Mut bewiesen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ein kleines, feines Buch, das in kurzweiliger Lektüre Wissens- und Bedenkenswertes über das urbane Zentrum Frankreichs vermittelt.

Karl Heinz Götze: „Immer Paris – Geschichte und Gegenwart”. 2002. Siedler Verlag. 254 Seiten.