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Die Gnade war spürbar. Wer immer ihn gesehen hat, gegen Ende, wer in Stuttgart dabei war oder in Weimar; in Lübeck, Kilchberg oder Zürich; in Amsterdam oder im Haag, hat sie gespürt, die Heiligkeit, die von ihm kam und die jede seiner Wirkungen bestimmte . . . Doch weder durch Talent, noch Können, noch durch die Summe beider erklärt sich die ungemeine Ergriffenheit, die er auslöste, besonders in der letzten Zeit. Was da die Menschen berührte und sie fast ausnahmslos für sich einnahm, war die Persönlichkeit mit ihren Rätseln, deren tiefstes und höchstes im Falle dieses Achtzigjährigen nicht anders zu benennen ist als „Gnade”.

Die Rede ist von Thomas Mann und seinem letzten Lebensjahr, das seine Tochter Erika in ihrem „Bericht über meinen Vater”, wie der Untertitel ihres Buches lautet, für die Nachwelt dokumentiert hat. Wenn sie es von der Gnade durchglänzt und erwärmt sieht, so nicht nur, weil der Tod ihm gnädig gewesen sei. Auch die zahlreichen öffentlichen Auftritte mit überwältigender Resonanz und offiziellen Ehrungen, die ihn, den politischen Emigranten aus Nazideutschland, erst peinlich spät erreichten, begreift sie ebenso als von Gnade bedingte Momente eines erfüllten Lebens wie den Tatbestand, dass er in seinem Todesjahr wichtige literarische Projekte – so die große Schiller-Rede und den „Versuch über Tschechow” – vollenden konnte.

Erika Mann beschreibt in ihrem leichtfüßig daherkommenden chronologischen Bericht aber nicht nur diese bedeutsamen Ereignisse des Jahres 1954/55. Auch den weniger bedeutenden und alltäglichen Begebenheiten schenkt sie gleiche Aufmerksamkeit. Denn es ist ihre Absicht, „Wichtiges mit weniger Wichtigem, Ungewöhnliches mit Alltäglichem, Unvergeßliches mit leicht zu Vergessendem auf ähnliche Art zu mischen, wie Zeit und Leben das tun”.

Erika Manns Buch ist dennoch mehr als nur eine Dokumentation der Ereignisse in Thomas MannsTodesjahr geworden. Es ist vor allem auch ein sehr persönliches Dokument des Abschieds von ihrem Vater, dem sie sich zwar zeitweilig entfremdet hatte, in den letzten Jahren aber eine zuverlässige Hilfe und enge Vertraute gewesen ist.

Erika Mann: „Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater”. S. Fischer Verlag. Frankfurt 2005. 6,90 Euro.