Eine solche Geschichte der deutschen Literatur hat es zweifellos noch nicht gegeben. Sie kommt mit 157 Seiten aus, während andere Literaturgeschichten in aller Regel mehrbändig sind. Aber auch sonst fällt „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur" aus dem Rahmen.
Ihr Verfasser, der Germanist Heinz Schlaffer, versteht es, auch nicht germanistisch gebildeten Lesern die deutsche Literatur näherzubringen, indem er auf bemüht gelehrte Formulierungen ebenso verzichtet wie auf fachpublizistisch übliche Fußnoten. Worauf der Leser jedoch nicht verzichten muss, sind kluge Gedanken und ein glänzender Stil.
Im Hinblick auf die publizistische Wirkung war es vom Autor gewiss nicht unklug, sein literaturhistorisches Unternehmen als Provokation der gegenwärtigen Germanistik anzulegen. „Die Germanistik flieht vor ihrem eigenen Begriff und der an ihn gebundenen Zumutung, den Umriß des Faches aus der Einheit seines Gegenstandes ,deutsche Literatur' herleiten zu müssen." Schlaffers Buch stellt sich dieser Zumutung, indem es die Geschichte der deutschen Literatur über die Frage, was daran typisch deutsch sei, zu beschreiben versucht. Dass es nur eine kurze Geschichte geworden ist, das, so zeigen einzelne Reaktionen auf das Buch, scheint die eigentliche Provokation zu sein. Doch mit dem kritischen Hinweis, Schlaffer erwähne diesen und jenen Dichter nicht, der unbedingt erwähnt werden müsste, ist dessen Bestandsaufnahme der deutschen Literatur nicht in Frage zu stellen. Denn sie will ja gerade nicht eine weitere Geschichte aller in deutscher Sprache verfasster literarischer Werke sein, sondern dem Typischen in der deutschen Dichtung, dem gelungenen und eben darum im literarischen Gedächtnis der Nachwelt aufbewahrten Werk nachspüren.
Nur zwei Perioden gibt es nach Schlaffers Analyse, wo deutsche Dichtung eine bemerkenswerte, weltweit anerkannte Qualität erreichte: zum einen den Zeitraum von 1750 bis 1830, der klassisch-romantischen Kunstepoche, in der „in unvorhersehbarer Gleichzeitigkeit aufeinandertrafen: christliche Religiosität, bürgerliche Intimisierung, philosophische Aufklärung, kultureller Vorrang der Literatur vor den anderen Künsten" und Dichter wie Goethe, Schiller, Lessing, Kleist, Hölderlin, Schlegel, Jean Paul und Novalis den Ton angaben; zum anderen die zumeist von jüdischen Intellektuellen wie Schnitzler, Hofmannsthal, Kraus, Roth, Musil, Kafka, George, Trakl und Benjamin geprägte, als klassische Moderne bekannte Zeit von 1900 bis 1950, in der die Dichter, desillusioniert durch die Verwerfungen der gesellschaftlichen Modernisierung, mit dem klassisch-romantischen Lebensideal auch dessen künstlerische Ausdrucksmittel aufgaben und nach neuen ästhetischen Formen für das Leben in der transzendentalen Obdachlosigkeit (Georg Lukács) suchten.
Und was ist mit der Literatur, die danach geschrieben wurde, mit den Werken von Böll, Walser, Grass, Koeppen? Stellen sie einen Niedergang der deutschen Dichtkunst dar? Ganz so weit geht Schlaffer nicht, er attestiert ihnen aber, da sie unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Katastrophe ihre Werke verfassten und verfassen, zu viel Moralismus und zu wenig ästhetisches Vermögen. Im gleichen Atemzug räumt er aber auch ein: „Selbst die Gebildeten unter den Mitlebenden haben meistens nicht die richtigen Bücher gelesen und auch diese nicht richtig gelesen."
Der Irrtum des Literaturkritikers ist also immer möglich, dagegen steht ein Literaturkanon, über dessen Sinn in letzter Zeit wieder häufiger gestritten wird, auf vergleichsweise festem Boden, beruht er doch auf dem ästhetischen Urteil von Generationen von Lesern. Auch wenn Schlaffer als Befürworter eines Kanons der deutschen Literatur auftritt, ist es nicht seine vordringliche Absicht, dem Leser zu sagen, was die richtigen Bücher sind. Seine Aufgabe sieht er vielmehr darin, zu erläutern, was diese kanonisierten Werke als deutsche Literatur im Vergleich mit anderer Nationalliteratur auszeichnet. Wie er das tut, das macht „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur" zu einer Publikation, die in Deutschland ohne Beispiel ist – auch deshalb, weil er die Kürze damit begründet, „dass ihrem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt".
Heinz Schlaffer: „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur”. Hanser-Verlag in München. 157 Seiten. 12,90 Euro
(Erschienen im „Darmstädter Echo“ am 15. 4. 2002)