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Im Urlaub einmal bis ans Ende der Welt reisen − wer unter den alltagsgeplagten Menschen wünschte sich das nicht? Der Wunsch geht in Erfüllung, wenn man als Reiseziel die portugiesische Algarve wählt, genauer: die Westalgarve. Denn ihre markante Südwestspitze, das Cabo de São Vicente, nennen die Portugiesen auch „Fim do Mundo, Ende der Welt″.

Ende der Welt deshalb, weil von hier Portugals Eroberungs- und Entdeckungsreisen im 15. Jahrhundert ihren Ausgang nahmen und die damalige Vorstellung von der Erde als Scheibe die Menschen glauben ließ, dass, wenn sie aufs Meer und dessen Horizont blickten, hier tatsächlich die Welt zu Ende sei.

Steht man am Rande des 60 Meter steil ins Meer abfallenden Felsmassivs des Cabo de São Vicente und lässt den Blick von der hoch aufschießenden Gischt der sich am Fels brechenden Wellen über die Weiten des atlantischen Ozeans wandern, erscheint uns die mittelalterliche Spekulation gar nicht mehr so abwegig. Um so mehr Hochachtung empfinden wir für die ersten Seefahrer, die den Mut besaßen, mit ihren Karavellen die Herausforderung des Meeres zu suchen, in unbekannte Welten aufzubrechen. Dagegen lassen die am Horizont sich langsam fortbewegenden Handels- und Tankschiffe in Richtung Straße von Gibraltar oder von dort kommend nichts mehr von diesen abenteuerlichen Ursprüngen der Seefahrt ahnen. Eher vermitteln sie das Bild eines regen und routinierten Seeverkehrs, der sich scheinbar unbeeindruckt zeigt von den Gefahren, die das Meer nach wie vor in sich birgt.

Nicht weit vom Cabo de São Vicente, an einem atemberaubend schönen, breiten Sandstrand an der Westküste der Algarve demonstriert uns das Meer, warum wir es ebenso fasziniert wie respektvoll wahrnehmen. Die unaufhörlich anrollenden Wellen mit ihren weißen Schaumkronen auf tiefblauem Wasser verlocken dazu, in sie einzutauchen, sich von ihnen schaukeln zu lassen, wäre da nicht nach wenigen Metern der starke Sog des zurückströmenden Wassers spürbar, der uns zum Spielball elementarer Gewalt degradierte, sollten wir es wagen, die schützende Strandnähe zu verlassen. Es ist dieses Naturschauspiel des mächtig anbrandenden Atlantik, der die Westküste der Algarve für uns besonders reizvoll macht. Da verschmerzen wir es leicht, dass er hier das Baden nicht zulässt. Ausgedehnte Wanderungen am acht Kilometer langen Strand, bei denen es interessante Steinformationen, Muscheln, Krebse sowie mannigfache Falter zu entdecken gibt, sind für uns mehr als ein bloßer Ersatz für entgangene Badefreuden.

Anders sieht es ein paar Kilometer südlich des Cabo de São Vicente, am Strand von Beliche aus. Hier zeigt sich der Atlantik, gebrochen durch die Felsformation des Kap, gezähmt. In einer leichten Dünung rollen die Wellen träge heran und laufen in einem flachen Sandstrand aus, der von hoch aufragenden Felswänden gesäumt wird. Am frühen Morgen, wenn noch keine Badegäste Besitz von ihm ergriffen haben, waltet eine große Harmonie über der Szenerie von kristallklarem Wasser, feuchtem Sand und scharfkantigen Felsen. Im an- und abschwellenden Rauschen der Wellen, die mit der nächtlichen Flut den Sand von menschlichen Spuren gereinigt und glattgestrichen haben, ist es uns, als ob wir ein tiefes Schweigen der Natur vernehmen. Wir genießen das Privileg, die ersten Spuren dieses Tages im Sand zu hinterlassen, und krönen dieses Erlebnis mit einem Bad im nur mäßig warmen Atlantik.

Wenig später tauchen auch andere Badegäste auf, doch viele werden es nicht an diesem Tag, wie überhaupt im westlichen Teil der Algarve, der von Lagos bis Sagres reicht, von Massentourismus nicht die Rede sein kann. Hier findet man noch wenig bevölkerte Strände und kleine Fischerorte wie Salema und Burgau, wo die Einheimischen die Szene beherrschen. Ein Grund für diese touristische Unterentwicklung ist sicherlich das allgemeine Bauverbot für große Hotelanlagen − eine Folge davon, dass dieser Küstenabschnitt zum Naturschutzgebiet erklärt wurde und man zudem aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Diese sind östlich von Lagos um die meistbesuchten Algarve-Orte wie Albufeira, Armação de Pêra, Carvoeiro, Portimão und Alvor unübersehbar. Hier wurde seit den sechziger Jahren, als man den Tourismus ankurbelte, eine Hotelanlage an die andere gebaut, ohne sie architektonisch der Küstenlandschaft anzupassen. Das Ergebnis wirkt auf den Betrachter einigermaßen bizarr. Über einer einmaligen Küstenformation aus feinem Sandstrand und den algarvetypischen Felsen, die das Meer in Jahrtausenden zu Höhlen, Türmen und Bogen geformt hat, erheben sich wahre Hotel-Kolosse, deren Architektur sich wie ein Anschlag auf die Ästhetik der sie umgebenden Landschaft ausnimmt.

Bei soviel Bettenkapazität in unmittelbarer Nähe des Strandes darf man natürlich kein einsames Badevergnügen erwarten. Dennoch ist auch hier nicht jeder Quadratmeter belegt. Tröstlich auch, dass einem vom Strand aus der Anblick der Hotelanlagen wegen der steil aufragenden Felswände erspart bleibt. Dafür fällt uns etwas anderes auf: eine weitere Facette des zwiespältigen Tourismus. Fischer der Algarve, die früher mit ihren Booten aufs Meer fuhren, um ihren Lebensunterhalt mit Fischfang zu verdienen, halten heute in der Sommersaison am Ufer Ausschau nach Touristen, um sie zu den Felstürmen und Grotten im grünblau schimmernden Meer zu bringen. Etwas Wehmut und Trauer über den Verlust ihrer ursprünglichen Identität paaren sich mit dem Verständnis für die wirtschaftliche Situation der Fischer, die im Tourismus ein einträglicheres Geschäft sehen, als es ihnen der Fischfang mit nicht mehr zeitgemäßer Ausrüstung bieten kann.

Mehr Ursprünglichkeit portugiesischen Lebens hat sich im Hinterland der Algarve erhalten. Anders als in den Küstenorten, wo das touristische Geschäft die „Algarvios″ zur Assimilation an die modernen Standards der Lebensführung zwingt, geht es in den abgelegenen Dörfern und Städtchen, soweit wir das als flüchtige Beobachter beurteilen können, beschaulicher zu. Mit einem Mietwagen unterwegs nach Monchique in der gleichnamigen Bergregion, passieren wir Orte malerischer Rückständigkeit und gelassener Betriebsamkeit. Während jüngere Einwohner ihre wegen des subtropischen Klimas überaus fruchtbaren terrassierten Böden bearbeiten, auf denen Mais und vor allem Korkeichen wachsen, aber auch Bananen, Orangen und Zitronen reifen, genießen es die älteren, im Schatten ihrer weißen Häuser über dieses und jenes zu plaudern und dabei sicher auch das ein oder andere Wort des Unverständnisses über uns Touristen verlieren, die offensichtlich nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als in einem kleinen, aufgeheizten Auto durch ihre paradiesisch schöne Landschaft zu fahren.

Doch letzte Zweifel über den etwas strapaziösen Landausflug schwinden, als wir auf dem Gipfel der Fóia stehen, dem mit 902 Metern höchsten Berg der Serra de Monchique, und halb Portugal uns zu Füßen liegt: im Süden die Felsenküste der Algarve, die Westküste bis fast nach Lissabon und weite Teile der Provinz Alentejo im Norden. In der Tat kein großes Land, aber eines, das seine Gäste mit großer Herzlichkeit empfängt. Überall, wo wir Kontakt mit Einheimischen hatten, fiel uns deren ungezwungene Freundlichkeit und Gelassenheit auf − keine Spur von geschäftlicher Servilität oder Gereiztheit gegenüber den andernorts schon wie eine Landplage empfundenen Touristen. Vielleicht hilft den Portugiesen dabei die ihnen oft nachgesagte Saudade, eine kollektive Gefühlsstimmung aus Fatalismus und Melancholie, die im Fado ihr musikalisches Spiegelbild hat.

Ob diese Grundstimmung in den zwei Wochen auf uns schon abgefärbt hat? Jedenfalls sehen wir beim Abschied im Flughafen von Faro die pausenlos ankommenden Maschinen, die bleiche Menschen ausspucken und braungebrannte aufnehmen, nicht ohne Melancholie.

(Erschienen im „Darmstädter Echo” am 7. 9. 1996,
Foto © Sebastian Fuss/PIXELIO.de)