Wer sich entschließt, seinen Sommerurlaub in Schottland zu verbringen, tut dies bestimmt nicht des Wetters wegen, das bereits im August schon herbstlich-kühl sein kann, und sicher auch nicht wegen der schottischen Küche, die sich von der oft geschmähten englischen nur in Nuancen unterscheidet.
Schottland kann mit weitaus Besserem aufwarten: Natur als spektakuläre Landschaft. Vom lieblich-hügeligen Süden um die Flüsse Clyde und Tweed, wo Getreidefelder und Wälder dominieren, über die südwestlichen Highlands mit ihren Bergen und Hochmooren, gleichsam Inbegriff schottischer Landschaft und Quelle seiner Mythen, bis zu deren nördlichen Regionen mit dem sturm- und meerumtosten Cape Wrath spannt sich der Bogen schottischer Naturlandschaft. Nicht zu vergessen die nach Hunderten zählenden Lochs, das sind Binnenseen, aber auch tiefe Meereseinbuchtungen, von denen das berühmteste, Loch Ness, wegen seines sagenumwobenen Ungeheuers die Touristen immer noch in Scharen anlockt.
So unterschiedlich die Landschaften Schottlands auch sind, in allen findet man, so weit das Auge reicht, frei umherlaufende Schafe. Es soll deren mehr geben, als Schottland Einwohner hat: mehr als fünf Millionen. Nicht minder charakteristisch für Schottland sind auch die allesamt malerisch gelegenen Castles, zumeist düstere Symbole der an kriegerischen und blutrünstigen Auseinandersetzungen reichen Geschichte dieses Landes. Nicht zufällig fand Shakespeare darin den Stoff für sein um einen Königsmord kreisendes Drama „Macbeth”.
Ein besonders grausames Kapitel der schottischen Geschichte ist in Glencoe geschrieben worden, der ersten Station unserer Reise. In diesem kleinen Ort in den Highlands, am Ausgang eines langen, von hohen Bergen begrenzten Tales und an einem Sealoch gelegen, sind im Jahre 1692 sämtliche Einwohner ermordert worden, weil deren Führer es versäumte, eine Unterschrift als Zeichen seiner Ergebenheit gegenüber einem mächtigeren Herrscher rechtzeitig zu leisten. Etwas von der Düsternis, die diese Geschichte umgibt, meint man noch beim Anblick dieses mächtigen Tales zu verspüren, durch das einst die Mörder kamen. Heute sind es die Touristen, die mit ihren Autos dieses Tal hinabfahren und das Geld bringen, von dem Glencoe, wie so viele andere Orte Schottlands, im Wesentlichen lebt.
Viele von ihnen zieht es der Berge wegen hierher, die zum Besteigen einladen. Sie sind zwar alle nur um 1000 Meter hoch, doch da man von Seehöhe aus startet, erfordern sie sowohl einige Kondition als auch Erfahrung im Bergklettern. Denn in Gipfelnähe sind sie zumeist felsig zerklüftet. Hat man den Gipfel erreicht, und ist dieser nicht gerade von Wolken umhüllt, bietet sich dem Blick ein grandioses Bergpanorama, in dem die vielen silbrig glänzenden Seen, die die Talmulden füllen, wie eine ideale landschaftliche Ergänzung wirken.
Von dem vertrauten Bild alpenländischer Berge-und-Seen-Landschaft unterscheiden sich die schottischen Highlands auffällig. Und dies nicht allein wegen der fehlenden Kühe, deren Part hier die Schafe übernommen haben. Auch die Lochs sind bisher unbehelligt geblieben von allerlei touristischer Infrastruktur wie Seegasthöfen, Anlegeplätzen für Boote etc. Surfer, die bei uns auch noch den letzten Tümpel als Ort ihres Freizeitvergnügens erobert haben, sucht man hier zum Glück meist vergebens. Den einzigen, den wir entdecken konnten – nicht zufällig ein Landsmann – nahm sich denn auch reichlich deplatziert aus in dieser unberührt scheinenden Seenlandschaft. Den stärksten Eindruck einer sich selbst überlassenen, fast urzeitlich wirkenden Landschaft bekommt man beim Anblick des Rannoch-Hochmoores an einem regnerischen, nebelverhangenen Tag. Die Schönheit dieses größten zusammenhängenden Hochmoorgebiets Schottlands kann man nur sprachlos-staunend erleben. In diesem Zusammenhang sollten die Anstrengungen der verantwortlichen Behörden nicht unerwähnt bleiben, solche einzigartigen Naturreservate vor einem landschaftszerstörerischen Tourismus zu bewahren.
Gleichwohl ist auch der Tourismus in Schottland nicht frei von bedenklichen Entwicklungen. Keine Stunde Autofahrt entfernt von Glencoe, bei Fort William, kann man einem seltenen, ja seltsamen Schauspiel beiwohnen. Einer Prozession gleich, ziehen Scharen von Bergwanderern – schätzungsweise 1000 am Tag – auf den höchsten Berg Schottlands und Großbritanniens, den 1300 Meter hohen Ben Nevis. Dass das ein unvergleichliches Bergerlebnis sein soll, wie es ein lokaler Prospekt anpreist, findet leider keine Bestätigung. Im Gegenteil: Das Begehen eines Berges in Gemeinschaft mit vielen verhindert geradezu das genuine Bergerlebnis: die Ruhe, konzentrierte Angestrengtheit als Leistung eines einzelnen, der mit sich und der Natur allein ist.
Zudem kann auch der Berg selbst nicht halten, was man sich von ihm versprochen hat. Der dreieinhalbstündige Anstieg ist wenig abwechslungsreich, kennt keine Kletterpartien und unterhält auch nicht mit dem einen oder anderen Wasserfall. Auch ist der Gipfel zumeist in Wolken gehüllt. Mit einem Wort: Ben Nevis ist eine einzige Enttäuschung gewesen. Dass er die Menschen dennoch in Scharen anlockt, verdankt er wohl wirklich nur diesem Superlativ: höchster Berg in Großbritannien zu sein. Zu wenig für anspruchsvolle Bergwanderer.
Wir verlassen Glencoe in Richtung Inverness, passieren das berühmte Loch Ness, das, ergänzt durch zwei Kanäle, eine Verbindung von Nordsee und Atlantischem Ozean ermöglicht. Bei seltenem Sonnenschein hat Loch Ness so gar nichts von einem düsteren, geheimnisvollen Ort, an dem man Ungeheuer vermuten würde. Gesehen haben wir es natürlich auch nicht, dafür eine Menge Menschen, die, mit Fotoapparaten und Videokameras bewehrt, allen Ernstes am Ufer seiner zu harren schienen. Übrigens ist das Ungeheuer von Loch Ness keine Erfindung unserer Zeit, wiewohl sie davon am meisten profitiert, sondern wird bereits im 6. Jahrhundert erwähnt. Entnommen haben wir diese Information einer Hinweistafel am Urquhart Castle, einem besonders reizvoll am See gelegenen Schloss, zu dem ein kleiner Abstecher lohnt.
Loch Ness ist aber noch in anderer Hinsicht interessant. Es verbindet nämlich nicht nur zwei Meere, sondern trennt auch die gebirgigen Highlands von ihren flacheren nördlichen Regionen. In diesen ist die Bevölkerungsdichte, ohnehin nicht hoch in ganz Schottland, sieht man von den wenigen großen Städten einmal ab, äußerst gering. Ein Zeichen dafür sind die Straßenverbindungen, von denen auch die Hauptlinien fast ausschließlich als Single Track Roads, d.h. einspurig ausgelegt sind. Da sie vom Fahrer einige Aufmerksamkeit erfordern, gilt es doch, auf gelegentlich entgegenkommende Fahrzeuge zu achten, um rechtzeitig in die zahlreich vorhandenen Ausweichbuchten zu steuern, entgeht zumindest ihm einiges von dem, was Mitfahrer in aller Ruhe genießen können: eine in ihrer Schönheit überwältigende hügelige Moorlandschaft, in der unzählige Schafe grasen, der vorbeifahrenden Autos scheinbar gänzlich unbekümmert. Die ganze Szenerie ist in ein unwirklich scheinendes Licht getaucht, das eine nur durch wenige Wolkenlücken strahlende Sonne erzeugt. Es entrückt die Landschaft dem Betrachter noch mehr, als sie es in ihrer Fremdheit ohnehin ist, und verstärkt dessen Gefühl der Einsamkeit. Unwillkürlich fragt man sich, wie die Menschen, die die wenigen Schafsfarmen bewirtschaften, es wohl in dieser Einsamkeit aushalten mögen. Gewiß, eine typische Frage eines Durchreisenden, der dabei vergisst, dass, was er als naturästhetisches Phänomen sieht, von den Menschen, die in und mit dieser Natur leben, profaner empfunden wird. Dennoch denken wir: Es muss schon ein seltsamer Menschentyp sein, der hier sich heimisch fühlt.
Von soviel Einsamkeit auf der Fahrt an die Nordküste begleitet, nehmen wir, dort angekommen, den Ort Durness, der nur aus 30 bis vierzig Häusern bestehen mag, als recht belebt wahr. Außerdem verfügt er über alle notwendigen zivilisatorischen Einrichtungen: ein Restaurant mit Lounge Bar, einen Lebensmittelshop und eine Tankstelle. Vor allem gibt es bei Durness einen wunderschön auf den steil abfallenden Klippen gelegenen Campingplatz, auf dem wir viele derjenigen wiedertreffen, denen wir unterwegs begegnet sind. Es sind dies durchweg Urlauber – die meisten kommen, von den Engländern und Schotten abgesehen, wen wundert's, aus Deutschland, gefolgt von Italienern (!), Niederländern und Franzosen –, die man als abgehärtet bezeichnen muss. Denn bei Tagestemperaturen um höchstens acht Grad, zuweilen heftigen Regenschauern und einer steifen Brise vom Meer, die nachts das Zelt fortzuwehen drohte, würde der sonnenhungrige, leicht erkältbare und der Bewegung abgeneigte Tourist niemals froh. So ist denn vor allem der Bewegungsdrang die wichtigste Voraussetzung, um in dieser unwirtlichen, aber beeindruckenden Küstenlandschaft erlebnisreiche Tage zu verbringen.
Eines der Ziele, die man hier unbedingt ansteuern sollte, ist Cape Wrath, ein von Durness rund 20 Kilometer entfernter meerumtoster Landzipfel, auf dem ein alter, noch immer in Funktion befindlicher Leuchtturm thront. Wir erreichen ihn, indem wir in der Nähe von Durness zunächst ein kleines Fährboot besteigen, das uns über eine Bucht bringt. Am anderen Ufer angekommen, wartet ein Mini-Bus, der in halsbrecherischer Fahrt die knapp 60-minütige Strecke zum Leuchtturm zurücklegt. Es besteht dann Gelegenheit, die Klippen um den Leuchtturm zu erkunden. Dabei ist Vorsicht geboten. Denn von deren Rand schaut man gut 100 Meter tief hinab in ein brodelndes Meer, von dem der gewaltig blasende Wind Schaum nach oben trägt. Wer hier abstürzen sollte, wäre unrettbar verloren.
Hat man sich schließlich genug Respekt vor solcher Naturgewalt einflößen lassen, kann man sich entweder vom Mini-Bus gleich zurückfahren lassen oder man entschließt sich zu einer zweistündigen Wanderung an der Küste entlang und lässt sich an einem bestimmten Punkt der Bus-Route später mitnehmen. Letzteres ist wirklich zu empfehlen, weil das unmittelbare Erleben dieser Küstenlandschaft ungleich intensiver ist als im geschützten Gehäuse eines Fahrzeuges.
Cape Wrath ist sicher der dramatische Höhepunkt einer an spektakulären Eindrücken überaus reichen Schottland-Reise gewesen. Weshalb doch vergleichsweise viele Touristen dieses Land im Sommer besuchen, wo andere genug daran haben, träge in der Sonne zu liegen, ist für uns keine Frage mehr. Sie fliehen die dicht besiedelte Heimat, suchen die Abgeschiedenheit in einer noch weitgehend intakten Naturlandschaft, wo sie selbst aktiv werden können, ja müssen. Vom häufig schlechten Wetter lassen sich diese Menschen nicht abhalten, wissen sie doch, dass es zur Landschaft passt, mehr noch: ihr das Maß an Naturdramatik verleiht, das Schottland so einmalig macht. Und das ist es doch, was allen der Urlaub sein soll: ein einmaliges Erlebnis.
(Erschienen im „Darmstädter Echo” am 6. 11. 1993,
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