XYZ Meine Website

Warum Gerhard Polt, der bayerische Kabarettist, in Neuhaus am Schliersee wohnt, wissen wir nicht. Aber wir finden, dass er eine gute Wahl getroffen hat. Neuhaus liegt zwar im Schatten des bekannteren Nachbarortes Schliersee, der ebenfalls auf einen prominenten Einwohner, den alpinen Olympiasieger Markus Wasmeier, verweisen kann.

Doch dafür bleibt Neuhaus auch weitgehend verschont von den Begleiterscheinungen eines Tourismus, dem die Vermarktung des falschen alpenländischen Idylls über alles geht. Nur die vielbefahrene Bundesstraße, die Neuhaus am Rande unschön durchschneidet, stört nicht wenig dessen Beschaulichkeit. Doch abseits davon hat es schöne, bewaldete Wohngebiete mit kleinen Pensionen und Ferienhäusern, wie geschaffen für Urlauber, die Ruhe suchen und deren Sinn nach unspektakulären Erlebnissen steht. Mit anderen Worten: Neuhaus ist die ideale Ausgangsbasis für ausgedehnte Wanderungen und Bergtouren.

Als Gipfel locken etwa der nahe Wendelstein, Brecherspitz oder Aiplspitz, allesamt zwischen 1600 und 1800 Meter hoch und daher für durschnittlich trainierte Bergwanderer genau das Richtige. Doch die als Urlaubsdreieck gepriesene Region um den Schliersee, zu der noch Fischbachau und Bayrischzell zählen, kann auch für Fahrradtouren ein ideales Gelände sein, vorausgesetzt, man scheut nicht die unvermeidlichen Anstiege. Wer darin gar eine Herausforderung sieht, dem sei hier gleich die Straße zum Spitzingsee empfohlen, die mit einer Steigung von 13 Prozent auf vier Kilometern zum harten Konditionstest gerät. Aber Vorsicht, denn schon mancher hat sich überschätzt und ist das Opfer eines falschen  Ehrgeizes geworden. Deshalb kann der Rat nur lauten, rechtzeitig vom Fahrrad abzusteigen und es zu schieben. Wer fährt, kommt ohnehin nur wenig schneller voran.

Für diese vermeintliche Schmach oder Quälerei, je nachdem für welche Art der Fortbewegung man sich entschieden hat, entschädigt, am Spitzingsattel angekommen, eine nur mäßig steile Abfahrt vorbei am touristisch intensiv frequentierten und leider auch durch überdimensionierte Hotelbauten nicht wenig verunstalteten Spitzingsee zum Forsthaus Valepp. Der für Autos gesperrte asphaltierte Weg windet sich, begleitet von einem gurgelnden Flüsschen, ein Tal hinab, an dessen Ende das wunderschön gelegene alte Forsthaus für eine erste Rast wartet. Der Leberkäse mit hausgemachtem Kartoffelsalat schmeckt nach dieser Tour de force und in würziger Waldesluft gleich noch mal so gut. Das Forsthaus, das sich den Charme seiner ursprünglichen Bestimmung bewahrt hat, bietet nicht nur gute bayerische Küche, sondern auch Übernachtungsmöglichkeit. So kann, wer will, schon früh am Morgen von hier aus zu längeren Bergtouren verschiedener Schwierigkeitsgrade – die meisten führen übrigens über die Grenze nach Österreich – – aufbrechen.  

Wir aber haben heute unsere Bergschuhe nicht eingepackt, und so radeln wir, frisch gestärkt, Richtung Tegernsee weiter. Der Weg führt uns, leicht ansteigend, wieder durch ein Tal, vorbei an saftigen, nach ausgiebigen Regenfällen vor Nässe dampfenden  Wiesen und Wäldern und über Brücken, unter denen der Wildbach rauscht. Wer Entspannung im Urlaub sucht, hier findet er sie ganz nebenbei. Es ist nicht allein die Landschaft, die in ihrem satten Grün die Nerven beruhigt, das Radfahren selbst tut ein übriges, indem es zur Konzentration auf die eigenen körperlichen Fähigkeiten zwingt, jede kleine Steigung spürbar macht und dadurch die Landschaft fast unmittelbar „erfahren lässt. Dabei verliert sich jeder Gedanke an die mitunter bedrückende Last des Alltags. Wer es nicht glaubt, muss es nur einmal ausprobieren.

Doch genug des Räsonnements. Denn nach Erreichen der Bergkuppe geht es in schneller Fahrt auf Wildbad Kreuth zu, wo sich alljährlich im Winter die CSU-Oberen zum Brainstorming treffen. Der schönste Teil unserer kleinen Rundreise ist hier leider schon zu Ende, denn nun müssen wir uns die Straße wieder mit Autos teilen, die an Zahl zunehmen, je näher wir Rottach-Egern und Tegernsee kommen. Das weithin bekannte Tegernsee gleicht in Lage und Tourismusaufkommen Schliersee, ist jedoch eine Spur feiner, um nicht zu sagen mondäner. Hier scheinen mehrheitlich gutbetuchte ältere Herrschaften ihre Erholung zu suchen, die sich zur Kaffeezeit in barock gestylten Cafés ihre Sahnetörtchen schmecken und dabei den Blick über den weitläufigen See schweifen lassen. Die eine oder andere Fahrt mit dem Motorschiff über den See sorgt für weitere Kurzweil. Auch so kann man seine Urlaubstage verbringen. Wir jedoch lassen Tegernsee links liegen, aktivieren unsere letzten Kraftreserven für die hügelige Landstraße nach Schliersee. Dort verlassen wir die Bundesstraße und wählen den Seeuferweg zurück nach Neuhaus, wo endlich auch unsere Zeit gekommen ist, ohne schlechtes Gewissen zwei voluminöse Stücke Bienenstich zu verdrücken.

Die 65 Kilometer des Vortages stecken uns zwar noch in den Waden, aber nichtsdestotrotz sieht uns der nächste Tag früh unseren Rucksack und die Bergschuhe schnüren, um zur Brecherspitz aufzusteigen,  ein seinem Namen alle Ehre machender spitz zulaufender Berg von fast 1700 Meter Höhe in unmittelbarer Nähe von Neuhaus. Die Tour hat ihren ersten Höhepunkt, wenn, nach gut einstündigem steilen Anstieg, eine weißblaue Fahne die bewirtschaftete Ankel-Alm ankündigt. Ohne solche Almhütten, die zur willkommenen Rast einladen, wären Bergwanderungen nur halb so schön. Und so genießen wir es, vor der Hütte an einem rustikalen Holztisch zu sitzen, ein Käsebrot zu essen, eine Radler-Maß zu trinken und ein paar freundliche Worte mit der Wirtin zu wechseln. Dazu lassen die um die Alm weidenden Kühe ihr friedliches Glockengebimmel hören. Bedarf es mehr, um glücklich zu sein, oder um Goethes Faust sprechen zu lassen: „Zum Augenblicke dürft ich sagen, verweile doch, du bist so schön“? 

Die Zweifler bleiben unten im Tal, wir aber streben über den Nordgrat dem Gipfel zu, wo eine kleine Schar Gleichgesinnter schon die besten Plätze besetzt hält. Doch ein passables Plätzchen findet sich auch für uns. Schweigend genießen wir den großartigen panoramatischen Blick, schauen auf die tief unter uns liegende Straße zum Spitzingsee, über die wir uns tags zuvor so quälen mussten. Doch das liegt im Moment weit weg, wie überhaupt die Gipfelperspektive die Dinge weniger schwer erscheinen lässt, ihre Bedeutung relativiert. Wirklich bedeutsam ist allein, dass man es aus eigener Kraft geschafft hat, 800 Höhenmeter zu überwinden. Das ist freilich auch der Grund, weshalb viele Bergwanderer sich über- und die Gefahren im Gebirge unterschätzen Letzteres soll uns heute nicht widerfahren.. 

Am Horizont dräuende Gewitterwolken lassen uns daher schnell aufbrechen und über den Nordgrat absteigen, der einige schwierige, mit Kletterseilen abgesicherte Passagen für uns bereithält. Einsetzender Regen, der die Felsen glitschig macht, versetzt uns unversehens in eine Situation, in der nur erhöhte Aufmerksamkeit uns vor einem Fehltritt und dem vielleicht tödlichen Absturz bewahrt. Da kommt uns ein Kapellchen von nicht einmal zwei Quadratmeter Grundfläche gerade recht, um Schutz vor dem Regen zu finden.

Keine Stunde später sitzen wir schon wieder vor einer Alm und lassen es uns bei einer Tasse Kaffee gutgehen. Der Wirt gibt derweil ein Beispiel für die Kontaktfreudigkeit und Gesprächslust der Einheimischen und legt, danach befragt, was ihn in diese Einsamkeit der Bergwelt geführt habe, ein Bekenntnis ab: Er könne ohne Berge eben nicht leben. So weit wollen wir bei aller Liebe zu den Bergen denn doch nicht gehen. Aber soviel gilt auch für uns: Ohne sie wäre das Leben weniger – Grund genug, immer wiederzukommen.    

(Erschienen im „Darmstädter Echo” am 30. 9. 1995,
Foto © Gerhard Eichstetter/Pixelio.de)