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Eine Schwachstelle der Tourismuskritik ist, dass der Kritiker meist selbst auch Tourist ist, dies aber nicht wahrhaben will. Für ihn gilt: Die Touristen, das sind immer die anderen. Die anderen, das sind diejenigen, die das touristische Erlebnis stören, wenn nicht gar zerstören.

Beispiel Venedig: Da bietet sich dem Tourismuskritiker ein Bild des Schreckens: auf den Markusplatz drängende Menschenmassen, die nichts Besseres zu tun haben, als die unzähligen Tauben zu füttern und anschließend die Gässchen und Brücken sowie die auf den Kanälen verkehrenden Vaporetti den Bewohnern Venedigs streitig zu machen. Und bei all dem werden sie nicht müde, ihr ganzes unseliges Treiben auch noch fotografisch zu dokumentieren. Als wahre Weltmeister erweisen sich hierin einmal mehr die Japaner, denen es vor allem die Seufzerbrücke angetan hat. Ihr rücken die Jäger des verlorenen Schnappschusses besonders massiv zu Leibe und lassen sich in Scharen zu musikalischer Begleitung unter ihr hindurchgondeln.

Aber ganz egal ob der Tourist im Strom derjenigen mitschwimmt, die eher dem Erlebnistourismus anhängen, oder individuell in ehrfürchtiger Distanz die Kulturschätze bewundert – eins steht fest: Nicht die Qualität des Venedig-Tourismus ist das Problem, sondern die schiere Anzahl der Besucher und die daraus resultierenden ökologischen Folgen für die Lagunenstadt. Warum zieht es nur so viele Menschen dahin? Sicher, Venedig bietet Kultur im Überfluss und ein Stadtpanorama, das weltweit seinesgleichen sucht – und dazu das Flair von mediterraner Schlitzorigkeit und arroganter Dienstbarkeit der Kellner, die wir so lieben. Und wo sonst bekommt man einen Cappuccino für 16 Mark? Die Wahrheit dürfte, wie so oft, noch einfacher sein: Wo alle meinen, gewesen sein zu müssen, da muss man selbst auch einmal gewesen sein. Venedig ist ein touristischer Ort schlechthin, ein „must seen”, wie die Amerikaner sagen. Und weil das so ist, kommen einem hier, mehr vielleicht als an einem anderen Reiseziel, Zweifel am Tourismus überhaupt.

Wäre es nicht überhaupt besser, in der Urlaubszeit einfach mal zu Hause zu bleiben und vielleicht ein Buch zu lesen? Es muss ja nicht gleich eines über Venedig sein. Ein frommer Wunsch, gewiss. Aber viel realistischer erscheint der ernsthaft erwogene Plan der Tourismusmanager Venedigs, für ihre Stadt einen Eintritt zu verlangen, auch nicht.

Eine Lösung zeichnet sich ab, wenn auch eine düstere: Nach wissenschaftlich gestützten Prognosen wird Venedig ohnehin in absehbarer Zeit untergehen. Bis es so weit ist, müssen eben alle weiter leiden: die Stadt, die Tourismuskritiker und die Venezianer.

(Erschienen im „Darmstädter Echo“ am 17. 3. 2001)

 


 

Der Verfasser hat mit dieser Glosse zum Problem des Massentourismus in Venedig, die 2001 publiziert wurde, angesichts dessen aktueller Brisanz Weitsicht bewiesen. Nicht nur hat sich die touristische Plage in Venedig inzwischen so weit verschärft, dass die dortigen Behörden von den Touristen tatsächlich einen Eintritt verlangen, der vor 23 Jahren zum ersten Mal als kurioser Vorschlag erwogen, aber damals noch nicht umgesetzt wurde, und der eigentliche Anlass für diese Glosse war. Dem Problem des Übertourismus ist damit aber nicht beizukommen, wie die Entwicklung des Touristenstroms in Venedig nach der Einführung einer Eintrittsgebühr und jüngste Ereignisse in Spanien, Griechenland und anderen touristischen Hotspots zeigen, wo Einheimische sich den überquellenden Tourismusströmen entgegenstellen. Denn diese Aufstände der Bevölkerung decken das Dilemma einer Eingrenzung des Massentourismus auf, da sie gegen diejenigen protestieren, wovon sie im Wesentlichen leben: den Touristen. Das tieferliegende Paradoxon des organisierten Tourismus hat Enzensberger vor langem für alle Zeiten gültig so formuliert: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“ So hilft letzten Endes, will man den Tourismus nicht in Gänze an die Wand fahren, vielleicht doch nur ein individueller Lösungsvorschlag, wie er sich in meiner damaligen Glosse als nicht so ganz ernst gemeint auch findet, aber heute dem Ernst der Klimasituation durchaus gerecht wird: Einfach mal weniger reisen oder auch mal zu Hause bleiben.