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Vielleicht erinnern wir uns noch an das Erdbeben im Rhein-Main-Gebiet vor zwei Jahren, als zehn lange Sekunden merkliches Beben die Menschen aus dem Schlaf rissen und sie jäh daran erinnerten, dass das Fundament der Erde, auf dem wir uns täglich sicher bewegen, so sicher nicht ist, wie es scheint.

Die sichtbaren Folgen waren, wie üblich bei Erdbeben im Rheingraben, kaum der Rede wert – dafür um so mehr die Wirkung auf die Psyche der Menschen. Das Beben lieferte – was heute nur noch eine Fußball-WM zuwege bringt – kollektiven Gesprächsstoff für mehrere Tage. Kaum einer, der nicht seinen Teil dazu beitrug und die beim Beben der Erde empfundene Angst sich von der Seele redete.

Wenn wir in diesen Tagen via Fernsehen zu Zuschauern des Schreckens werden, den eines der seit Jahrzehnten verheerendsten Erdbeben im japanischen Kobe den dort lebenden Menschen eingejagt hat, dann reden wir nicht etwa über die Todesangst, die sie ausgestanden haben, als die Erde gewaltig bebte, und die ihre Spuren in den Gesichtern der in den Trümmern verzweifelt nach ihren Angehörigen und Freunden suchenden Überlebenden hinterlassen hat, sondern wir reden über Vordergründig-Spektakuläres: umgeknickte Autobahnstelzen etwa, eingestürzte Hochhäuser, die Kosten und den mutmaßlichen Zeitraum des Wiederaufbaus, die Produktionsausfälle der japanischen Weltfirmen und auch über die schlecht geplanten, unzureichenden Rettungsaktionen der Hilfsorganisationen.  

Und in dieses Reden mischt sich mitunter auch ein Gran klammheimlicher Genugtuung darüber, dass diesmal die wirtschaftliche Supermacht Japan Opfer einer Naturkatastrophe wurde, nicht irgendein Land der Dritten Welt, das auch ohne solche Katastrophen schon genug gestraft ist. Nur, die Bilder aus dem wie nach einem Krieg zerstörten Kobe lassen kaum daran denken, dass diese Stadt einmal reich gewesen ist. Was wir sehen, ist der fast komplette Zusammenbruch ihrer Infrastruktur, von Menschen in Jahrzehnten aufgebaut, von Naturgewalt in nicht einmal einer Minute zerstört. Das sollte uns mehr zu denken geben, als darüber zu räsonieren, ob die disziplinierten und bienenfleißigen Japaner nicht in kürzester Zeit die Spuren der Verwüstung wieder beseitigt haben werden. Auch wenn es der westliche Mythos vom Riesen Japan so will, das werden sie nicht. Optimistische Schätzungen gehen davon aus, dass allein die Wiederherstellung der Eisenbahnlinien und der Autobahnen in frühestens einem Jahr möglich sein wird. Anderes wird längere Zeit in Anspruch nehmen, bis es wieder sein ursprüngliches Aussehen hat. Eines aber wird ganz sicher nicht mehr so sein, wie es vor dem Beben war: Das Bewusstsein der Menschen wurde zu tief und schmerzhaft von diesem Erdbeben beeindruckt, als dass es jemals aus ihrem Gedächtnis gelöscht werden könnte.

Doch die Reaktionen darauf mögen denkbar unterschiedlich ausfallen. Während die einen noch das Trauma von diesem katastrophalen Erdbeben gefangenhalten wird und ihnen die Zweifel zur Gewissheit werden, dass auch aller technischer Fortschritt sie nicht vor solchen Naturkatastrophen zu schützen vermag, werden dessen Apologeten – nach dem ersten Schock – schon wieder selbstbewusst-optimistisch verkünden, dass bis zum nächsten Beben alles unternommen werde, um dessen Zerstörungskraft noch weiter zu begrenzen. Für sie sind solche Naturkatastrophen vor allem ein Anlass für neuerliche Anstrengungen, die Natur zu zähmen. Deshalb wollen oder können sie nicht begreifen, dass Erdstöße wie die in Kobe mehr zu zerstören in der Lage sind als das, was Menschen geschaffen haben: ihr Selbstvertrauen nämlich, ihr Vertrauen in die eigenen, und das heißt hier vor allem technischen Möglichkeiten angesichts einer übermächtigen, im Gestus grausamer Gleichgültigkeit auftrumpfenden Natur. Aber gerade weil die Natur wieder einmal so eindrucksvoll die Pläne zu ihrer Beherrschung konterkarierte, gilt es, diese Pläne um so vehementer voranzutreiben. Denn das Eingeständnis der Niederlage bedeutete für die Menschen nichts weniger als darüber zu verzweifeln, dass das Projekt einer einseitig technizistisch akzentuierten Moderne zum Scheitern verurteilt ist.

Dass dies so sein könnte, war den Menschen vor mehr als 200 Jahren, als das Projekt der Moderne in ihren Köpfen Gestalt annahm, noch bewusst und nicht so leicht zu verdrängen wie heute, wo dessen Ausgestaltung ihnen zur zweiten Natur geworden ist. Damals zerstörte das Erdbeben von Lissabon nicht nur zwei Drittel der Stadt, sondern vermochte auch nachhaltig das Vertrauen vieler Gelehrter und Philosophen in die Weltordnung zu erschüttern.  Das Weltbild der Aufklärung, das zeitweise sogar mit einer „prästabilierten Harmonie” der Dinge rechnete, bekam erste Risse. Andere Katastrophen danach, wie der Untergang der als unsinkbar erklärten „Titanic", rüttelten am Glauben an die technische Beherrschung der Naturgewalten. Doch letztlich siegte immer wieder, unter dem Eindruck unbezweifelbarer Erfolge auf dem Felde der Naturbeherrschung, die Überzeugung, dass der technische Fortschritt unaufhaltsam sei und irgendwann auch die Natur unter sein Diktat zwingen werde. Wie eine unausgesprochene Bekräftigung dieser Überzeugung lassen sich Verlautbarungen aus Kobe interpretieren, beim Wiederaufbau der zerstörten Stadt nun wirklich ernst zu machen mit der Forderung nach erdbebensicherem Bauen. Ja nicht zugeben, dass es bei Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen keine wirkliche Sicherheit geben kann, scheint die Devise unserer Fortschrittsmanager und der Preis für die Glaubwürdigkeit des Systems moderner Gesellschaften zu sein. Wenn es schon keine wirkliche Sicherheit vor den Launen der Natur geben kann, so will wenigstens das Bedürfnis nach dem Als ob befriedigt sein.

Da ist es bei aller Tragik des Schreckens fast schon wieder komisch, dass wenige Tage bevor in Kobe die Erde bebte Pläne von japanischen Architekten bekannt wurden, die 1000 Meter hohe Wolkenkratzer vorsehen – und dies an einem Ort,  für den ein starkes Beben mit noch verheerenderen Folgen als in Kobe vorhergesagt wird. Im Großraum Tokio geht jetzt die Angst um. Ob sie die Architekten umstimmen und ihre Pläne in den Schubladen verschwinden lassen wird, ist freilich nicht zu vermuten. Denn diese Wolkenkratzer sollen, wie versichert wurde, selbstverständlich erdbebensicher sein. Ja, wenn das so ist, dann nichts wie rein in die schönen Hochhäuser. Aus dieser Warte hat es sicher etwas ungemein Beruhigendes, gar Erhabenes zu beobachten, wie unten alles in Schutt und Asche fällt, während man hoch droben, in leichter Schwingung, dem grandiosen Naturschauspiel beiwohnt.