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Die folgenden Überlegungen zum Thema verpasstes Leben verdanke ich der Schriftstellerin Judith Hermann, die in einem Gespräch im „Darmstädter Echo“ vom 3. September 2021 gesagt hat: „Die Frage ist, ob man die Entscheidungen für oder gegen die eine oder die andere Richtung (in der eigenen Lebensgeschichte, d. Verf.) dann als eine verpasste Chance bezeichnen muss − auf eine Weise glaube ich gar nicht, dass man etwas verpassen kann.“

Wie wahr! Denn, wie Judith Hermann ergänzt, passiere immer etwas, auch das nicht Erwartete oder sogar Erhoffte, und alles, was passiert, ist, wenn es passiert, gleichrangig mit allem, was nicht passiert, aber auch passieren könnte. Erst im Nachhinein, in der Erinnerung neigt der Mensch dazu, seine Lebensereignisse zu gewichten, um dann womöglich zu dem Schluss zu kommen, dass sein Leben in der Gesamtbetrachtung ein verpasstes gewesen sei. Das muss und darf aber nicht sein, dass die Trauer um ein angeblich ungelebtes Leben der letzte Gedanke im selbigen ist. Entlastend für die Betroffenen mag sein, dass in der Kette der Lebensereignisse sich nur diejenigen befinden, die in der Erinnerung fest verankert sind, das Leben aber aus viel mehr Ereignissen als den erinnerten besteht. Aber auch diese haben den jeweiligen Menschen zu dem werden lassen, der er ist, wenn er zurückblickt. Es steckt insofern etwas Tröstliches in der retrospektiven Erkenntnis, dass das eigene Leben also grundsätzlich nicht als verfehlt gelten kann, denn was sollte das Kriterium einer solchen Beurteilung angesichts dessen sein, dass es keinen Plan für das gesamte Leben geben kann und überhaupt nur Bruchteile dessen  in der Erinnerung aufbewahrt sind.