Mit diesem Paradigmawechsel wirkte der dänische Philosoph bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Ja, man kann sagen, dass er zu den geistigen Wegbereitern der Postmoderne gehört, die das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts geistesgeschichtlich geprägt hat. Und es ist kein Zufall, dass die Ironiedebatte heute eingebettet ist in die Diskussion über eben jene Postmoderne, die im Kern lehrt, dass alles philosophisch Gedachte und Beschriebene nur eine Konstruktion des Menschen sei und demzufolge von einer geschichtsphilosophisch begründeten Entwicklung der Geschichte im Sinne fortschreitender Aufklärung und Humanisierung nicht länger ausgegangen werden könne. Die Grundlagen postmodernen Denkens gehen dabei bis auf Nietzsche zurück, der sich mit seiner erkenntnistheoretischen These, es gebe keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen, gegen einen wie auch immer metaphysisch fundierten Wahrheitsbegriff gewendet und den ironischen Standpunkt als Kritik geschichtsphilosophisch verstandener Aufklärung ins Spiel gebracht hat. „Nietzsches Aufklärung als Theorie der Ironie", so hat es Karlheinz Bohrer gesehen, sei dabei gleich weit entfernt von reinem Ästhetizismus, wie er im romantischen Ironiebegriff angelegt sei, und einem kruden Moralismus, der Waffe naiver Fortschrittsapologeten.
Diesen Faden nimmt der postmoderne amerikanische Philosoph Richard Rorty auf. Er versteht unter einem Ironiker einen Menschen, der radikale und unaufhörliche Zweifel an metaphysisch begründeten, abschließenden Wahrheiten hegt, auch an seinen eigenen Wahrheiten, und der Meinung ist, dass keine Aussage über die Welt ein apriorisches Erkenntnisprivileg für sich beanspruchen könne. Deshalb seien Ironiker auch nie ganz dazu in der Lage, „sich selbst ernst zu nehmen, weil immer dessen gewahr, dass die Begriffe, in denen sie sich selbst beschreiben, Veränderungen unterliegen; immer im Bewusstsein der Kontingenz und Hinfälligkeit ihrer abschließenden Vokabulare, also auch ihres eigenen Selbst".
An dieser Stelle kommt, für manche vielleicht überraschend, das Lachen ins Spiel. Eine schöne Variation über das Verhältnis von Lachen und Wahrheit hat Umberto Eco mit seinem fulminanten Roman „Der Name der Rose" geliefert. In einer fesselnden Kriminalgeschichte verknüpft er beide dergestalt, dass er einen Mönch zum Mörder werden lässt, damit die befreiende Botschaft der Wahrheit über das Lachen, wie es im apokryphen dritten Buch der Aristotelischen „Poetik” beschrieben sein soll, die anderen Mönche nicht erreicht und die alte festgefügte Ordnung des klösterlichen Lebens nicht ins Wanken gerät. Religion, die es tödlich ernst meint, und das Lachen, so lautet die eindeutige Botschaft Umberto Ecos, sind nicht kompatibel. Damit ist eine solche Form der Religion auch diskreditiert für den weiteren Fortschritt in der Welt, wenn es ihn denn überhaupt noch geben kann. Andererseits, so ist zu fragen: Soll am Lachen also die Welt genesen? Stellen Ironie und Selbstironie den Königsweg zu einem lebenswerten Leben mit den scheinbar unlösbaren Widersprüchen dar, die die moderne Welt in ihrem Innersten zusamenhalten?
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Ironie ist, so sehr sie auch mit Lachen und Heiterkeit verknüpft ist, nicht das Medium der postmodernen Spaßkultur, in der alles geht, alles relativiert wird und nichts mehr verbindlich ist. Ihr ist es ausgesprochen ernst mit ihrem Spiel der Sprache, das Aufklärung im besten Sinne und Kampf gegen falsche Wahrheiten ist. Zum Beispiel gegen jegliche Form des Fundamentalismus. Dieser Meinung jedenfalls ist der deutsche Philosoph Odo Marquard, wenn er die „Ironie gegenüber dem Radikalismus" bevorzugt, weil er für eine Gesellschaft plädiert, deren Zusammenhalt auf Gewaltenteilung beruht, „bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind". Dagegen zeichnen sich alle zur Zeit politisch wirksamen fundamentalistischen Positionen, bei aller Verschiedenheit, durch das Beharren auf einer, ihrer Wahrheit aus, die zur Begründung auch schrecklichster Verbrechen herhalten muss. Schwer vorstellbar, dass die islamistischen Terroristen von New York zu ihrer wahnsinnigen Tat fähig gewesen wären, hätten sie auch nur eine Portion Ironie besessen, die eine heitere Distanz zum eigenen, verblendeten Selbstverständnis schaffte und damit die unheilige Verbindung zwischen Überzeugungen und Verbrechen zu lösen imstande wäre. Auch die RAF ist hier zu nennen. Beobachtet man ihre einstigen Protagonisten heute in Fernsehinterviews, die sie nach überstandener Freiheitsstrafe gegeben haben, wirken sie, obwohl sie sich von ihren vergangenen Verbrechen schon länger distanziert haben, immer noch auffallend geistig verhärtet und humorlos, jedenfalls gänzlich ironiefern. Das ist aber vielleicht auch zu viel verlangt nach all den Toten, den ihr „Kampf gegen das verhasste System“ auf beiden Seiten zur Folge hatte.
Dass die Ironie den Weg in eine philosophische Therapie des fundamentalistischen Denkens weisen könnte, ist freilich nur eine schwache theoretische Hoffnung angesichts einer immer komplexer und für den einzelnen unüberschaubarer werdenden Welt; und auch angesichts einer sich beschleunigenden globalen Modernisierung, die von traditionalen Gesellschaften als Bedrohung empfunden wird und auch in den industrialisierten Ländern reihenweise Opfer produziert. Da wächst eher das Bedürfnis nach Orientierung und einfachen Wahrheiten denn nach Zweifel und Selbstzweifel, gepaart mit einer heiteren Gelassenheit, wofür die Ironie auch steht. Organisationen und Bewegungen, auch politische Parteien, die dieses Bedürfnis befriedigen, können sich daher über regen Zulauf freuen. Religiöse Sekten und Gotteskrieger, nationalistische politische und rassistische Gruppierungen, esoterische Zirkel, auch die Anhänger von Verschwörungserzählungen im Zuge der Corona-Pandemie und was derlei obskurantistische Strömungen und Zusammenschlüsse in unserer Zeit mehr sind – sie alle haben eine klare, einfache Botschaft und deshalb auch keine Affinität zur Ironie. Wo es darauf ankäme, im Selbstzweifel leben zu lernen, weil zum Leben der Zweifel gehört („De omnium est dubitare", Karl Marx), bieten diese Organisationen ihren Mitgliedern eine Heimstatt trügerischer Selbstsicherheit, im Widerspruch zu Adornos These, wonach es kein richtiges Leben im falschen gebe.
Wie zu fragen sei, um der Wahrheit näher zu kommen in einer Zeit, wo weltanschauliche Sicherheiten ohne Selbstbetrug nicht mehr zu haben sind, dies lehrte Sokrates und, dass es ohne Ironie nicht geht – heute weniger denn je. Denn sie befreit vom Zwang eindeutiger sprachlicher und gedanklicher Festlegungen – und hält so den Gedanken lebendig, dass auch alles anders sein könnte bzw. anders wahrgenommen werden könnte je nachdem, welche Perspektive man zugrunde legt. Vielleicht ist die Ironie als im Adornoschen Sinne nichtidentifizierende Denkfigur die angemessenere Art, in der Unübersichtlichkeit heutigen Denkens den Überblick zu behalten, als gegen diese Unübersichtlichkeit krude Denk- und Ordnungsschemata aufzubieten. Damit wird nicht der Beliebigkeit im Sprechen und Denken das Wort geredet. Mit der Ironie verknüpft jedenfalls Kierkegaard durchaus eine substanzielle Hoffnung: „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie."
Kurt Frech
Literatur:
Gernot Böhme: Der Typ Sokrates. Frankfurt 1998. Suhrkamp Verlag
Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie. Frankfurt 1976. Suhrkamp Verlag
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Philosophie. Erster und Dritter Teil.Stuttgart 1955. Glockner-Ausgabe
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zweiter Band. Stuttgart 1955. Glockner-Ausgabe
Vermischte Schriften aus der Berliner Zeit. Stuttgart 1955. Glockner-Ausgabe
Friedrich Schlegel: Schriften zur Literatur.. München 1972
Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt 1975. Suhrkamp Verlag
Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn
Karlheinz Bohrer: Sprachen der Ironie. Sprachen des Ernstes. Frankfurt 2000. Suhrkamp Verlag
Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt 1991. Suhrkamp Verlag
Umberto Eco: Der Name der Rose.
Odo Marquard: Individuum und Gewaltenteilung. Ditzingen 2004. Reclam Verlag